Die Zugspitze Rätselraten um frühe Bergbezwinger
Stolz schreibt Leutnant Josef Naus im August 1820 in sein Tagebuch, er habe "die höchste Spitze des noch von keinem Menschen bestiegenen, so verschrienen Zugspitz" erreicht. Die alpinistische Leistung findet in der Öffentlichkeit zunächst kaum Beachtung. Bergsteigen ist zu dieser Zeit noch wenig populär und es gibt keine Massenmedien, die die Nachricht vom Gipfelsturm in die Welt hinausposaunen.
Doch mit der Entdeckung des Gebirges als "schöner" Landschaft und dem Aufkommen des Tourismus erlangen die Besteiger von Alpen-Hauptgipfeln zunehmend Heldenstatus. Naus, der es versteht, sich selbst ins rechte Licht zu setzen, macht Karriere in der bayerischen Armee und steigt zum General auf.
Im Werdenfelser Land runzeln nicht wenige Zugspitzkenner die Stirn. Sie glauben zu wissen, dass lange vor dem "Zuagroasten" Einheimische ganz oben auf dem Berg waren - sie haben sich dessen nur nicht gerühmt, geschweige denn - wie der gebildete Naus - darüber geschrieben.
"Ybers blath ufn zugspitz… 4 stundt"
Im Jahr 2006 meldet der Deutsche Alpenverein (DAV) einen vermeintlichen Sensationsfund - eine im Archiv wiederentdeckte Karte des Zugspitzmassivs aus dem 18. Jahrhundert. Die Orientierungshilfe ist zwar undatiert, aber Experten halten sie für echt und gehen davon aus, dass sie um 1750 entstand. Eingezeichnet ist ein Steig durch das Reintal auf den Gipfel der Zugspitze, zudem gibt es Zeitangaben über die Dauer des Aufstiegs ("4 stundt"). Sofort kommen Zweifel an der Erstbesteigung durch Josef Naus auf.
Nachdem sich die erste, mit beträchtlichem Medienhype verbundene Aufregung gelegt hat, gewinnt eine nüchterne Betrachtung Oberhand. Die Karte ist nicht signiert und liefert keinen hieb- und stichfesten Beweis für eine Besteigung der Zugspitze Jahrzehnte vor Naus. Möglich ist aber, dass Menschen damals in der Gipfelregion unterwegs waren oder dass jemand über einen Aufstieg grübelte und den Weg über das Zugspitzplatt, eine Terrasse in der Bergwand, in die Karte einzeichnete. Die Zeitangabe ist vermutlich ein Schätzwert, denn nur vier Stunden Aufstiegszeit zum Gipfel in einem Gelände ohne erschlossene Wege - abgesehen von ein paar Schmuggler- und Hirtenpfaden - scheint aus heutiger Sicht äußerst knapp bemessen. So bleibt alles beim Alten: Es gilt weiterhin der erste namentlich bekannte, der naus'sche Gipfelerfolg.
Probleme der Alpinismusforschung
In der Geschichte des Alpentourismus wird der Zeitraum 1760 bis 1880 als Entdeckungszeit bezeichnet. Einige Besucher kommen aus wissenschaftlichem Interesse, andere gehören Grenzkommissionen an oder haben, wie Josef Naus, einen militärischen Auftrag. Erst mit fortschreitender Industrialisierung und dem Aufstieg des Bürgertums erscheinen Erholungssuchende in den dünn besiedelten Tälern und gehen mit Einheimischen "ohne Zweck" in die Berge.
Um 1830 wird das Wort "Tourist" aus dem Englischen ins Deutsche übernommen; Grimms Wörterbuch beschreibt den Touristen als Reisenden, der "zu seinem Vergnügen" unterwegs ist. Die alpintouristische Entdeckungszeit ist gut dokumentiert. Bis 1880 werden alle Hauptgipfel erstiegen, zuweilen liefern sich konkurrierende Seilschaften bizarre Wettrennen.
Dürftige Quellenlage
Mangels Quellen können Bergbesteigungen vor der Entdeckungszeit kaum erforscht werden. Fest steht, dass Einheimische damals über ausreichend Ortskenntnisse und bergsteigerisches Geschick verfügen, um Berge zu erklimmen. Aber sie sehen keinen Grund, einfach "mal so" auf Gipfel zu klettern. Ihr Leben ist ohnehin gefährlich und voller Entbehrungen. Der Volksglaube - man wähnt Götter und böse Geister auf den Gipfeln - verstärkt den Respekt vor Bergen.
Bergsteigen erscheint der Gebirgsbevölkerung bis ins 19. Jahrhundert als unangebrachte Tätigkeit. Es kann aber vorkommen, dass Jäger auf Gipfel geraten, wenn sie Beute verfolgen. Hirten erreichen vielleicht die Felsspitzen auf der Suche nach entlaufenem Vieh - aber wer oben war, spricht nicht darüber. Heute lassen sich diese alpinistischen Taten nicht mehr personalisieren.