Hormone Die Welt der Psycho-Hormone
Hormone halten nicht nur physiologische Parameter im Gleichgewicht. Sie machen uns auch fit für Stress aller Art. Fit für Situationen, in denen wir rasch auf Gefahren reagieren, großen physischen und psychischen Druck oder andere Belastungsspitzen wie Verletzungen und Krankheiten aushalten müssen. In solchen Alarmphasen schütten die Nebennierenrinde und das Nebennierenmark die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Alle drei sind echte Notfallexperten: Der sprichwörtliche Adrenalinschub beschleunigt den Puls, erweitert Pupillen und Bronchien, steigert das Atemvolumen und den Blutdruck, stimuliert die Fett- und Zuckerspeicher zur Abgabe eingelagerter Glukosevorräte. Die stoßartige Bereitstellung zusätzlicher Zuckerrationen und die Fokussierung der Aufmerksamkeit machen uns bereit für den sofortigen Angriff oder die rasche Flucht. Ähnlich wirken die Stresshormone Noradrenalin und Cortisol: Auch sie aktivieren das Herz-Kreislauf-System, schärfen die Sinne, steigern den Blutfluss ins Muskelgewebe, kurbeln Herzschlag, Stoffwechsel und Glukosefreisetzung an.
Voll überdreht: Der aufgepeitschte Organismus
Der hormonelle "Power-Booster" hat nicht nur die Überlebenschancen der Menschheit im Lauf der Evolution deutlich verbessert. Auch der moderne Alltag bietet noch immer genügend Anlässe zum Hochfahren der Stressbewältigungshelfer. Die Sache hat aber einen Haken. Normalerweise werden die akut aktivierenden Botenstoffe rasch abgebaut und entsorgt. Problematisch wird es allerdings, wenn diese Sicherheitsabschaltung versagt. Das passiert unter anderem dann, wenn uns psychische Belastungen, berufliche und soziale Überforderungen, Erkrankungen, Schlafmangel, Schichtarbeit, Lärm oder die Reizüberflutung durch permanenten Medienüberkonsum und Komaglotzen unter Dauerstress setzen. Weil die Nebennieren durch diese Stimuli unentwegt zu viele Stresshormone produzieren, arbeitet der Organismus permanent im Alarmmodus. Wir stehen beständig unter Strom, sind aufgepeitscht, überdreht, kommen nicht mehr "runter". Herz- und Kreislaufkrankheiten, Schlafprobleme, Persönlichkeitsveränderungen und psychische Störungen bleiben nicht lange aus.
Oxytocin: Das Kuschel- Sex- und Treuehormon
In jüngster Zeit wird immer deutlicher, dass das Spektrum hormoneller Wirkungen noch längst nicht ausgeleuchtet ist. Vieles spricht dafür, dass die Signalstoffe auch den Gefühlshaushalt, die Psyche und das Sozialverhalten beeinflussen. Zum Leitstern dieses erweiterten Hormonverständnisses ist vor einigen Jahren das als "Kuschel"-, "Bindungs"-, "Lust"- oder "Orgasmus"-Hormon etikettierte Oxytocin aufgestiegen. Es wird in der Hirnanhangdrüse gebildet und galt lange Zeit als reines "Gebärhormon", weil es die Wehen einleitet, die Milchproduktion anregt und den Ausstoß der Plazenta stimuliert. Wie zahlreiche Studien nahelegten, kann Oxytocin jedoch weitaus mehr. Die Ausschüttung des Wirkstoffs fördert soziale Bindungen, stärkt das Vertrauen, steigert das Sexualverlangen und das Lustempfinden. Mittlerweile sind auch die Wirkungsmechanismen zumindest ansatzweise erkennbar. Aktiviert wird der Botenstoff durch Körperkontakte wie Umarmungen, Zärtlichkeiten, Berührungen aber auch bereits durch Blickkontakte. Die Freisetzung senkt mit dem Blutdruck auch den Cortisolspiegel und flutet zugleich das Belohnungszentrum des Gehirns. Die Folgen sind sofort spürbar: Oxytocin unterdrückt das Angst- und Fluchtverhalten, reduziert Stress, weckt angenehme, lustvolle Gefühle. Die sozial glättende, entspannende, wohltuende Wirkung des Wahrnehmungsschmeichlers bewährt sich auf vielen Ebenen. Sie stärkt die Mutter-Kind-Bindung, weil das Saugen an der Mutterbrust Oxytocin mobilisiert; sie stärkt die Bindung zwischen Menschen, die sich umarmen und körperlich nahe sind; sie stärkt die Bindung zwischen Sexualpartnern, weil jeder Orgasmus hohe Oxytocindosen ausschüttet, die ein Gewühl wohliger Entspannung, Müdigkeit und tiefer Vertrautheit vermitteln.
Für viele Überraschungen gut
Die Gefahr, dass den Endokrinologen das Material zum Staunen ausgeht, ist gering. Die Experten haben gerade erst begonnen, die Wunderwelt der Hormone und ihrer vielfältigen Wirkungen zu erkunden. Mit jedem entschlüsselten Detail wächst die Verblüffung über die Leistungsfähigkeit und Funktionsvielfalt der winzigen Biobotschafter, die nicht nur das Leben am Laufen, sondern auch Leib und Seele zusammen halten.