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Abgrenzen mit Augenmaß

Grenzen setzen Abgrenzen mit Augenmaß

Stand: 25.07.2018

Wütender Nachbar schimpft über den Gartenzaun | Bild: picture-alliance/dpa

Wo die Fähigkeit zur Abgrenzung fehlt, wo Ohnmachtsgefühle, Überforderungs- und Demütigungserlebnisse und ein Gefühl völliger Schutzlosigkeit überwiegen, stehen letztlich nur zwei Auswege offen: Zum einen der völlige Rückzug, die komplette Abschottung und Totalverweigerung. Diese introvertierte, rigide Abgrenzung minimiert zwar das Verletzungsrisiko, macht aber einsam. Der zweite Weg führt über unterdrückten Ärger, stummen Groll und verschluckte Wut zum Affektausbruch. Irgendwann ist das Maß voll, irgendwann entlädt sich die Dauerdemütigung durch unentwegt erduldete Grenzverletzungen in einer gewaltigen Explosion. Es kracht, weil die druckausgleichende Regulation eines funktionierenden Selbstschutzes fehlt. Problematisch sind solche eruptiven Befreiungsschläge, weil sie unkontrolliert und ungesteuert erfolgen. Dabei wird in der Regel mehr zerschlagen als gewonnen.

Wer helfen will, muss Abstand halten

Grenzen zu ziehen, Zumutungen abzuwehren, auf das eigene Wohlergehen zu achten, ist also weder egoistisch noch verwerflich, sondern gesund und vernünftig. Und asozial ist die Ausbildung seelischer Sicherheitsschotts schon gar nicht. Im Gegenteil: Eine intakte innere Abgrenzung ist letztlich die Voraussetzung dafür, offen für die Nöte anderer zu bleiben und im Ernstfall wirksame Hilfe zu leisten. Ist das ein Paradox? Nein! Wer einem Ertrinkenden helfen will, darf sich nicht selbst unter Wasser ziehen lassen. Darum achten Rettungsschwimmer darauf, Körper- oder Halsumklammerungen zu vermeiden und üben die nötigen Befreiungsgriffe. Erst die Sicherheit, diesen Selbstschutz jederzeit anwenden zu können, erlaubt ihnen, auch anderen zu helfen. Die goldene Regel der Wasserwacht hat auch im Alltag ihr Recht: Menschen, die sich nicht abgrenzen können, denen die Fähigkeit zur inneren Distanz fehlt, sind schlechte Helfer. Sie werden entweder selbst in den Strudel der Verzweiflung, der Hilflosigkeit, des Elends hineingezogen oder sie verweigern die Hilfe aus Angst, überrollt und verschlungen zu werden.

"Alles oder nichts" ist keine Lösung

Das Plädoyer für die Ausbildung stabiler innerer Grenzen und einer klar umrissenen Individualität ist kein Freibrief für schrankenlosen Egoismus, Kaltherzigkeit und soziale Totalverweigerung. Ein starkes Ich bedeutet eben nicht, sich selbst absolut zu setzen und abzuschotten, sondern im jeweils richtigen Moment "nein" oder "ja" zu sagen. Es geht darum, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, die jeweils eigene Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft wahrzunehmen und zu achten, um sich so vor der Überforderung durch die Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche anderer zu schützen. Nur wer seiner inneren Grenzziehung vertraut und sich ihrer Wirksamkeit sicher ist, kann sich offen auf andere einlassen. Wo genau diese Grenzen zwischen Nähe und Abstand, zwischen Verbindlichkeit und Freiheit, zwischen Kompromiss und Selbstaufgabe jeweils liegen, muss immer wieder neu überprüft, an der jeweiligen Situation ausgerichtet und mit dem Ziel einer gesunden Balance zwischen Selbstbehauptung und Gemeinsinn nachjustiert werden.

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Mann mit stoppender Hand und einem "Nein" | Bild: colourbox.com zum Thema Grenzen setzen Schutz und Selbstbehauptung

Immer als erster im Büro und als letzter draußen? Dauernd die doofen Jobs an der Backe? Was andere sagen, wiegt zentnerschwer und jedes "Nein" würgt wie eine Gräte im Hals? Das riecht nach einem echt fetten Abgrenzungsproblem! [mehr]