Intuition Die Intelligenz des Unbewussten
Spätestens seit Immanuel Kant huldigt die westliche Welt dem bewusst prüfenden, urteilenden, kritischen und rational agierendem Verstand. Das ist auch gut so. Aber nicht gut genug. Denn es reicht nicht, um den Menschen vollständig zu beschreiben. Es reicht bei Weitem nicht, um sein Denken zu verstehen und sein Handeln zu erklären.
Der Bauch des Eisbergs
Der bewusste Verstand ist lediglich ein kleiner Ausschnitt dessen, was unsere Intelligenz ausmacht. Die Ratio, unser ganzer Gattungsstolz, ist letztlich nur ein Luxusprodukt der Natur, so etwas wie ein Schöpfungsüberschuss. Was uns lernen, agieren, erfinden und überleben lässt, wird größtenteils in Gehirnarealen verwaltet und verarbeitet, die das Bewusstsein zwar speisen, auf die es aber selbst nicht zugreifen kann.
Ein zuverlässiges Alltagswerkzeug
Wie mächtig der unbewusste Anteil unserer Intelligenz ist, zeigt sich täglich. Jemand lächelt uns an: meint er es ehrlich oder will er uns schmeicheln? Diese Stimme: Ist sie freundlich und vertrauenswürdig oder sollte man vorsichtig sein? Da kommt was auf uns zu: weitergehen oder ausweichen, wenn ja, wohin? Hinter jeder dieser Fragen stehen Millionen hochkomplexer und hochvernetzter Sinneswahrnehmungen, Verknüpfungen, Speicherabfragen und Situationsanalysen, die absolut präzise in Millisekunden ineinandergreifen müssen.
Regeln und ihre Anwendung
Ein weiterer Beleg für die Funktionalität unserer intuitiven Intelligenz ist der kindliche Spracherwerb. Was es heißt, die Grammatik einer Fremdsprache zu erlernen und anzuwenden, weiß jeder, der je damit getriezt wurde. Der bewusste Verstand muss komplizierte Fachbegriffe und abenteuerliche Konstrukte aufbieten, um sich das abstrakte Regelwerk mühsam. Kinder lernen es nebenbei. Einfach so. Rein intuitiv. Und das in einem Alter, in denen sie eine geschriebene Grammatik weder lesen, geschweige denn verstehen könnten.
Geschwindigkeit zählt
Ebenso intuitiv, das heißt aufgrund nicht rational vermittelter, sondern unbewusst erschlossener und angewendeter Regeln funktioniert nahezu alles, was wir im Alltag brauchen, um uns zu schützen, zu ernähren, zu erhalten und mit anderen auszutauschen. Immer wenn es komplex wird und schnell gehen muss, egal ob ein Risiko, ein Gesichtsausdruck, eine Körperhaltung, eine Stimmfärbung oder die Flugbahn eines Balls, eines Speers, Messers oder Pfeils ausgewertet werden soll, ist der bewusste Verstand überfordert. Ein Grund ist die immense Diskrepanz zwischen der Datenmenge, die unsere Sinne in jeder Sekunde produzieren, und dem Datenvolumen, das unser Bewusstsein pro Sekunde bewältigen kann. Von den etwa elf Millionen Sinneseindrücken, die das Gehirn sekündlich erreichen, kann das Bewusstsein gerade einmal 40 verarbeiten. Der Rest geht nicht verloren. Er wird nur umgeleitet: in das verborgene Netzwerk unserer intuitiven Intelligenz, in ein System, das über schier unbegrenzte Speicherkapazitäten verfügt und Hochgeschwindigkeitsprozesse ermöglicht.