Die eigene Vergangenheit Was wären wir ohne Erinnerung?
Über sein autobiografisch-episodisches Gedächtnis hält der Mensch Kontakt zur Vergangenheit. Bestimmte Episoden, schöne oder traurige Ereignisse werden dauerhaft gespeichert, andere vergessen. Das Gedächtnissystem kann Zeitformen unterscheiden und ist sehr leistungsfähig - die Spanne der Erinnerungen reicht von Begegnungen mit Menschen und Tieren bis zu Telefonnummern oder Handy-Passwörtern. Auch über Gefühle in bestimmten Situationen gibt das Gedächtnis Auskunft. Für die Bildung einer eigenen Identität ist es unverzichtbar, denn ohne Erinnerung würde die Persönlichkeit eines Menschen zerbröseln.
Blick durch die Brille der Erinnerung
Aus der Masse der Erinnerungen, die das Gedächtnis bereithält, ragen ganz besondere Erinnerungsinseln heraus. Hier sind bedeutende Lebensthemen ebenso verortet wie ungelöste Konflikte und kritische Episoden unseres Daseins. Wer sich beim Ausflug in die Vergangenheit diesen Inseln nähert, kann Freude und Zufriedenheit, aber auch Angst und Trauer empfinden.
Wir haben diese Erinnerungen unbewusst definiert, sie kreisen oft um zentrale Bedürfnisse oder Ziele, die wir uns gesetzt haben. Sie nehmen Einfluss auf unser Selbstbild und schreiben am "Drehbuch für unser Leben" mit. Gefährlich wird es, wenn Erinnerungen den Blick auf aktuelle Ereignisse verstellen und Endlosschleifen produzieren (Beispiel: "Ich bin schon immer zu kurz gekommen, so wird es auch diesmal sein…").
Auf der Spur der Erinnerung
Den häufigen Zugriff auf negative Erinnerungen bezeichnet Sigmund Freud als "Wiederholungszwang". Personen, die beispielsweise unter Depressionen, Beziehungsproblemen oder Minderwertigkeitskomplexen leiden, halten gern an alten Erfahrungen fest und verfallen immer wieder in gewohnte Interaktionsmuster. Gesunde hingegen integrieren neue Erfahrungen in ihr Selbstbild.
Bei der Auseinandersetzung mit Schlüsselerinnerungen kann therapeutische Hilfe sinnvoll sein. Mit fachkundiger Unterstützung fällt es leichter, Erinnerungen bis hin zu frühen kindlichen Erfahrungen "nach oben" zu holen und zu hinterfragen. Werden Deformationen erkannt, lassen sich neue Reaktionsweisen erarbeiten. Und wenn es am Ende keine "stehenden Gewässer" mehr gibt, meint der Tiefenpsychologe C. G. Jung, wenn man auf die Vergangenheit zurückgreift und sich Neuem zuwendet, ist die Biografiearbeit gelungen.