Die eigene Vergangenheit Vom Umgang mit der Geschichte
Das Erinnern spielt für die Entwicklung von Menschen eine wichtige Rolle. Wer sich Ereignisse aus bestimmten Lebensphasen vergegenwärtigt, sie intellektuell durchdringt und dem Hang zum Vergessen und Verdrängen widersteht, schafft es, fest gefügte Reaktionsschemata zu durchbrechen. Wenn alte Denk- und Verhaltensweisen auf den Prüfstand kommen, lässt sich aus Fehlern lernen.
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit und deren "Bewältigung" sind nicht, wie es sich manche wünschen, in einem einmaligen Kraftakt möglich. Wie Einzelpersonen, die sich auf Biografiearbeit einlassen, müssen sich Gesellschaften mit Blick auf kollektive politische Vorgänge einem fortlaufenden Prozess stellen.
Vertuschung und Selbstbetrug nach 1945
Bis weit in die 1960er Jahre hinein war der Wunsch vieler Deutscher übermächtig, die Verbrechen des "Dritten Reiches" zu verdrängen und zu vergessen. Selbst hochrangige NSDAP-Mitglieder wurden nach der Gründung der Bundesrepublik rasch in den jungen Staat integriert. Der Jurist Hans Globke, Mitkommentator der antijüdischen Nürnberger Rassegesetze, stieg beispielsweise zum Staatsekretär von Bundeskanzler Konrad Adenauer auf.
Dass Hitler das deutsche Volk "verführte", galt im ersten Nachkriegsjahrzehnt als eine Art Entschuldigung für Täter und Mitläufer. Über die Vernichtung der europäischen Juden sprach man kaum. Seelische Abwehrvorgänge wurden von Tätern mit Schuldkomplexen wie auch von traumatisierten Opfern mobilisiert, das Ergebnis war Schweigen. Und als schließlich die westdeutschen Entschädigungsleistungen an Israel und die Diaspora-Juden geregelt waren, wurden Forderungen laut, einen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit zu ziehen.
Der Publizist Ralph Giordano sprach empört von einer "Zweiten Schuld", Alexander und Margarethe Mitscherlich attestierten den Deutschen die kollektive "Unfähigkeit zu trauern". Damit drohe, so das Psychoanalytikerpaar, die ewige Wiederkehr des Verdrängten, denn Verhaltensmuster werden von Generation zu Generation weitergegeben.
Das Schweigen wird überwunden
Proteste gegen das das Versteckspiel kamen vor allem aus linksliberal-sozialdemokratischen Kreisen. Die Kritiker der "schweigenden Mehrheit" verwiesen auf die unbewältigte Vergangenheit und verlangten eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der NS-Zeit.
Mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess, der der breiten Öffentlichkeit Einblick in die Vernichtungsmaschinerie gab, dem Druck der 68er, die ihren Vätern unangenehme Fragen stellten und Willy Brandts legendärem Kniefall in Warschau vor dem Mahnmal für den jüdischen Ghettoaufstand änderte sich der Blick auf das "Dritte Reich". Eine Debatte über "Geschichts-" und "Erinnerungspolitik" begann und wurde in der BRD weitaus intensiver geführt als in Österreich oder der DDR. Schülerwettbewerbe wurden initiiert, Historiker widmeten sich der "Zweiten Geschichte" des Nationalsozialismus.
Trotz mancher Widersprüchlichkeit und einem unübersehbaren Nachholbedarf in den neuen Bundesländern ist die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik Deutschland eine anerkennenswerte Leistung. Das Schweigen wurde überwunden und längst ist nicht mehr von Schuldgefühlen die Rede, sondern von Verantwortungsbewusstsein. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, ob eine Gesellschaft, die sich der Vergangenheit gestellt hat, künftig gegen ähnliche Ansteckungen immun ist.