Blut - Ein Band zu Gott? Das Thema
Das Wort Opfer, so klärt uns das Herkunftswörterbuch des Dudenverlags auf, ist als denominatives Verb zu lat. opera „Mühe, Arbeit, erarbeitetes Werk“ oder dem etymologisch verwandten Substantiv opus entstanden. Das ursprünglich lateinische Verb operari bedeutet demnach „werktätig sein, arbeiten, beschäftigt sein, sich abmühen“ und im sakralen Bereich „der Gottheit durch Opfer dienen, Almosen geben“. Eine alte Rückbildung aus dem Zeitwort ist das Substantiv Opfer, das schon in althochdeutscher Sprache bezeugt ist.
So alt wie das Wort, so alt ist auch die damit bezeichnete Sache, die schon im Alten Testament belegt ist. Noch weiter zurück liegt eine Beschreibung des Gilgamesch-Epos aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend, in dem einer der Götter selbst die Menschen aufforderte, mit Opfern den Zorn seiner Kollegen zu beschwichtigen. Diese Rolle des Opferkultes dürfte in allen antiken Religionen eine hervorragende Bedeutung gehabt haben. Eine Welt, die in der religiösen Vorstellung nicht nur von einer Vielzahl von Göttern bevölkert ist, sondern teilweise sogar aus Gottheiten besteht wie im alten Ägypten, konnte nur Bestand haben, wenn das Tun der Menschen immer wieder durch Opfer vor den Göttern gerechtfertigt, entschuldigt oder gesühnt wird.
Ich gebe, damit du gibst
Eine Weiterentwicklung des Opfergedankens lässt sich in der griechisch-römischen Mythologie beobachten, wo der Satz „do ut des“ (lateinisch „Ich gebe, damit du gibst“) eine eher geschäftsmäßige Beziehung zum polytheistischen Götterhimmel offenbart. Die Menschen opferten demnach nur, damit die Götter ihnen willfährig sein sollten. Vor allem in der indianischen Götterwelt Mittelamerikas galt der Mensch nichts, die Gottheit dagegen alles. Dementsprechend bedeutungsvoll waren vielfältige Opferriten, von denen vor allem das Menschenopfer den Anstoß der christlichen Conquistadores erregte und bis heute zwiespältig diskutiert wird.
Entwicklung im jüdisch-christlichen Kulturkreis
Unsere kritische Haltung gegenüber dem Opfergedanken und die Ablehnung speziell des Menschenopfers ist in unserer vom Christentum geprägten Tradition begründet. In der bekannten alttestamentlichen Geschichte von Abrahams Opfer (Gen 22,1-19) ist der Stammvater der Israeliten ohne zu zögern bereit, seinen Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen. Gott selbst ist es, der im letzten Moment Einhalt gebietet und dem sogenannten Vater des Glaubens zeigt, dass er nicht Menschenopfer fordert, sondern den Glauben.
Trotz dieser für die Verhältnisse im alten Orient sehr fortschrittlichen Erkenntnis bildeten sich im israelitisch-jüdischen Kulturkreis vielfältige Opferformen heraus, von denen das Brandopfer wohl das beeindruckendste Beispiel abgibt (vgl. „Das Gottesurteil auf dem Karmel“, 1 Kön 18,1-46). Während die Propheten dem Opferkult durchaus kritisch gegenüber standen (vgl. „Lieber Gehorsam als Opfer“, Jer 7,21-28), sahen die Priester darin eine Quelle ihres Einkommens und ihrer Macht. Nicht zuletzt Jesus sah sich genötigt, in der sogenannten Tempelreinigung (Neues Testament, Mt 21,12-17) auf den Missbrauch des Opferwesens hinzuweisen.
Jesus - das Opferlamm Gottes
Jesus Christus ist der Messias (hebräisch: „Gesalbter“), den die Juden seit dem Babylonischen Exil erwarteten und der sie von politischer und religiöser Knechtschaft befreien sollte. Dies erregte jedoch den Argwohn der weltlichen wie der religiösen Machthaber, die durch das Auftreten des Messias ihren Einfluss und ihre Vormachtstellung verlieren würden. Darin ist auch ein Grund für die Verhaftung und Hinrichtung Jesu zu sehen. Jesus selbst verstand seinen Tod jedoch als Opfer und sein Blut „als Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28).
Unblutiges Opfer
Mit diesen Worten setzte Jesus das Sakrament der Eucharistie bzw. des Abendmahles ein, das an die Stelle blutiger Opfer im Tempel trat. Seither versteht man unter der Opferung im Gottesdienst die Vorbereitung von Brot und Wein für das gemeinsame Mahl im Gedenken an die Erlösungstat Jesu Christi. Durch Geldspenden können die Gottesdienstbesucher an dieser Art des stellvertretenden Opfers teilnehmen. Nicht mehr das eigene Blut muss fließen, um mit Gott versöhnt zu werden - das hat Jesus Christus bereits für uns getan, glauben die Christen. Unser eigenes Opfer besteht in einer demütigen Glaubenshaltung und der Bereitschaft zu tätiger Nächstenliebe. Allerdings ist wahre Demut in unserer modernen Welt für viele Menschen ein zu großes Opfer; viel leichter lässt sich da ein Scheck ausstellen, mit dem das Gewissen beruhigt wird, ohne sein Selbstbewusstein verbiegen oder sich vor den Nachbarn eine vermeintliche Blöße geben zu müssen.
Einschätzung der aztekischen Menschenopfer
Wie dem auch sei - in vielen Völkern hat diese Entwicklung des Opfergedankens nicht stattgefunden, so auch bei den Azteken. Dort gab es keine Möglichkeit, sich von der Verpflichtung loszukaufen. Die Götter konnten nur durch menschliches Blut besänftigt werden. Dadurch dass Menschen das Wichtigste, das sie besaßen, ihr Leben, manifestiert im schlagenden Herzen, den Göttern darbrachten, hofften sie auf das Wohlwollen derer, von denen sie nicht nur den fruchtbringenden Wechsel von Tag und Nacht, sondern auch Wohlstand und Kriegsglück abhängig glaubten.
Der Opfertod - eine große Ehre
Es ist nicht verwunderlich dass die spanischen Eroberer diesem barbarischen Treiben als Ausdruck eines heidnischen Irrglaubens ein Ende setzten. Jedoch dürfen wir den Kult der Azteken nicht einfach verurteilen aus unserer heutiger Sicht, geprägt durch unsere demokratische Grundordnung, eine selbstverständliche Einhaltung der Menschenrechte, eine größtenteils säkularisierte Gesellschaft und eine aufgeklärte bis ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Religion. Bei den Azteken wie bei anderen Völkern Mittelamerikas und darüber hinaus galt es als große Ehre, als Opfer für die Gottheit auserwählt worden zu sein. Vielfach gab es überhaupt nur zwei ehrenvolle Arten zu sterben: das Sterben im Kampf und als Menschenopfer.
Menschenopfer oder Selbstmord?
Aus christlicher Sicht ist das Menschenopfer freilich abzulehnen. Dennoch sei ein kritischer Gedanke erlaubt: Das Christentum wäre wohl nicht so schnell gewachsen und hätte sich nicht so weit verbreitet, wenn die frühen Christen nicht immer wieder durch das Beispiel der Märtyrer aufgerichtet worden wären. Schon in vorchristlicher Zeit galten Männer als Helden, die bereit waren, für ihre Kameraden nicht nur sprichwörtlich die Hand ins Feuer zu legen. Bis heute gibt es Menschen, die bereit sind, für ihren Glauben zu sterben. Pervertiert wird diese Haltung zwar durch islamistisch verblendete Selbstmordattentäter, die nicht nur sich selbst, sondern ganz bewusst auch Unbeteiligte mit in den Tod reißen. Aber steht nicht auch dahinter der Gedanke, durch das Opfer des eigenen Lebens die Welt zum Besseren zu verändern?
Heißes Blut statt laues
Wir Christen neigen dazu, derartige Extreme sofort abzulehnen. Tatsächlich kann kein vernünftiger Mensch Menschenopfer oder Selbstmordattentate heute gut heißen. Möglicherweise kann jedoch unserer dekadenten westlichen Gesellschaft der fehlende religiöse Enthusiasmus zum Vorwurf gemacht werden. Unsere unentschlossene Haltung, aufgeklärte Zurückhaltung und areligiöse, indifferente Gesichtslosigkeit ist nicht von vorne herein dem übers Ziel hinausschießenden Fanatismus radikal Gläubiger überlegen. In der Geheimen Offenbarung des Neuen Testamentes sagt Gott: „Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien“ (Offb 3,15f.). Deshalb muss die Bereitschaft in anderen Kulturen, „heißes“ Blut zu opfern, richtig verstanden werden, auch wenn man diese Bereitschaft weder akzeptieren noch nachvollziehen will.
Opfer heute
Welche Art zu opfern ist also unserem aufgeklärten, europäischen Selbstverständnis angemessen? Auch hierfür kann nochmals die Bibel als Grundlage der Kultur des christlichen Abendlandes herangezogen werden. In der Perikope „Das Opfer der Witwe“ (Mk 12,41-44) erklärt uns Jesus, dass Gott nicht auf den absoluten Betrag schaut, den ein Spender opfert, sondern auf die innere Haltung, aus der heraus das Opfer gegeben wird. Darin schließt sich der Kreis zu Abrahams Opfer, bei dem auch der Glaube das eigentliche Geschenk an Gott ist. Bei unseren Opfergaben darf also nicht ein rein äußerlicher Sensationseffekt im Vordergrund stehen, sondern es kommt darauf an, aus brennender Liebe – heiß! - am Erlösungswerk Jesu Christi teilzunehmen und dadurch die Welt wenigstens um ein kleines Stück dem Reich Gottes näher zu bringen.