Wenn sich das Kollektiv erinnert Das kollektive Gedächtnis
Den Begriff des kollektiven Gedächtnisses führte der französische Soziologe Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren ein, als er Zusammenhänge zwischen dem persönlichen Gedächtnis von Menschen und gemeinsame Erinnerungen von Gruppen aufzeigte. Der deutsche Kulturhistoriker Aby Warburg und das Forscherpaar Jan (Ägyptologe) und Aleida Assmann (Literaturwissenschaftlerin) knüpften an Halbwachs' Arbeiten an.
Unter einem kollektiven Gedächtnis versteht man die Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. Einzelindividuen erinnern sich an vergangene Ereignisse, sie tauschen sich aus, erkennen Gemeinsamkeiten und machen die Erfahrung, dass sie sich bei Bedarf auf das Gedächtnis der anderen stützen können. Schließlich wird ihnen klar, dass bestimmte Erinnerungen für ihre Ziele, ihr Verhalten und ihre Identität relevant sind. All diese Erinnerungen gehören schließlich der Allgemeinheit an und können jederzeit abgerufen werden.
Manche Ereignisse - beispielsweise Kriege, spektakuläre Siege, Regimewechsel, Unrecht, Not, Verfolgung - werden derart hochrangig eingeschätzt, dass sie nicht nur von einzelnen Personengruppen, sondern von der gesamten Nation erinnert werden und der Gemeinschaft einen geistigen Zusammenhalt geben. Um diese kollektiven Erinnerungen dauerhaft zu verankern, wird eine Erinnerungskultur geschaffen. Dazu gehören unter anderem Denkmäler, Feste und Riten.
Erinnern und vergessen
Wie das individuelle Gedächtnis unterliegt auch das kollektive Gedächtnis einem Selektionsprozess. Dunkle Kapitel werden nicht selten verdrängt (Beispiel: Zeit des Nationalsozialismus in den 1950er Jahren) oder beschönigt (Beispiel: Nischengesellschaft in der DDR). Durch positive Erinnerungen (Beispiel deutsche Einheit 1989/90) und durch Verehrung herausragender Persönlichkeiten stärken Kollektive gern ihre Identität und entwickeln Selbstbewusstsein.
Erinnerungen werden "neu verhandelt"
Das kollektive Gedächtnis wandelt sich immer wieder. In Gruppen oder innerhalb einer Nation findet von Zeit zu Zeit eine Neubewertung von Erinnerungen statt. Die Sendung macht dies am Beispiel des Arminius ("Hermann der Cherusker") deutlich, der im Jahr neun nach Christus ein römisches Heer vernichtete und die Besetzung Nordwestgermaniens verhinderte. Im 19. Jahrhundert stilisierte man ihn zum Helden des germanischen Gründungsmythos, heute ist er eine eher unbedeutende historische Figur. Gerade Museen müssen auf veränderte Erinnerungen immer wieder reagieren.