Zum Sonntag Die Würde des Unvollkommenen: Menschsein im KI-Zeitalter
Es mag verführerisch sein, die KI als Ersatz für den Menschen zu sehen, zur Optimierung unserer Unzulänglichkeiten. Doch diese Sichtweise übersieht, was es heißt, ein Mensch zu sein, sagt der Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi.
Es ist eine Faszination, die sich kaum leugnen lässt: Künstliche Intelligenz. KI-Technologien gestalten unsere Kommunikation, sie beeinflussen politische Entscheidungen, sie verändern sogar unser Selbstverständnis. Die Debatten um ChatGPT, autonome Fahrzeuge oder generative Kunst gehen längst über technische Faszination hinaus. Elon Musk und andere prophezeien eine Welt, in der der Mensch durch seine eigene Schöpfung obsolet wird.
Ist der Mensch nur das Maß seiner Funktionalität
Ist der Mensch aber wirklich nur das Maß seiner Funktionalität, seiner Produktivität oder seines intellektuellen Potentials? Oder liegt sein Wert nicht in etwas, das keine noch so ausgeklügelte Maschine je erfassen, geschweige denn nachahmen könnte? Die Gefahr ist nicht nur, dass wir uns von der Effizienz blenden lassen, sondern dass wir uns selbst auf das reduzieren, was auch Maschinen leisten können. Doch gerade hier, in dieser Reduktion, zeigt sich, was uns wirklich ausmacht: unsere Begrenztheit, unsere Verletzlichkeit – und die Würde, die genau darin liegt, unverfügbar zu sein, unverfügbar im Denken, im Fühlen und Glauben.
Keine Maschine kann den Schmerz einer Trennung fühlen
Der Mensch ist nicht unfehlbar. Er scheitert, er irrt, er trägt Wunden und Narben mit sich – körperlich, seelisch, historisch. Es gibt keine Maschine, die den Schmerz einer Trennung, die Freude eines Neubeginns oder die tiefe Melancholie einer Erinnerung je nachempfinden könnte. Ein Mensch, der tröstet, trägt nicht die Effizienz eines Systems in sich, sondern die Einfühlsamkeit eines Wesens, das selbst Schmerz kennt. Auch wenn KI uns in vielen Bereichen übertrifft – unser Wert bleibt uneinholbar. Kein Algorithmus kann die existenzielle Tiefe der Liebeskummer oder die zarte Schönheit eines Trostes begreifen. Kein neuronales Netz kann wirklich lieben. Kein Chatbot kann beten.
Die KI kann nicht denken, sondern nur Denken nachahmen
Noch nicht einmal kann die KI denken, sondern Denken nachahmen, weil Denken nicht nur kaltes Kalkulieren meint, nicht einmal bloß biologisch begründet ist, sondern auch historisch, kulturell und sozial. Es mag verführerisch sein, die KI als Ersatz für den Menschen zu sehen, sie als Optimierung unserer Unzulänglichkeiten zu feiern. Doch diese Sichtweise übersieht die Verantwortung, die wir gegenüber uns selbst und den kommenden Generationen tragen. Die Frage ist nicht, wie sehr wir uns der KI anpassen können, sondern was es heißt, ein Mensch zu sein. Wir sollten die Errungenschaften der Technologie nicht fürchten, aber wir dürfen uns auch nicht in ihnen verlieren.
KI ist ein Werkzeug, kein Selbstzweck
KI ist Werkzeug, nicht Selbstzweck. Sie kann uns helfen, aber sie wird uns nie ersetzen. Denn was uns Menschen ausmacht, ist keine Funktionalität, sondern Unverfügbarkeit. Die menschliche Unzulänglichkeit ist keine Schwäche, sondern eine Quelle der Würde. Unsere Verletzlichkeit verbindet uns miteinander. In unseren Wunden erkennen wir die Wunden anderer. In unseren Grenzen finden wir die Gelegenheit zur Versöhnung mit uns selbst und mit der Welt. Unser Wert ist unantastbar, nicht trotz, sondern gerade wegen unserer Unzulänglichkeiten. In einer Welt, die immer perfekter, glatter und schneller zu werden scheint, bleibt der Mensch ein Geheimnis, das keine Maschine je lüften wird. Und genau das steht auf dem Spiel.