Zum Sonntag Das Kind, das uns geboren wird, war Jude
Antisemitismus ist kein schönes Thema zwei Tage vor Heiligabend, wo man es friedlich und behaglich haben will. Aber vielleicht hilft es ja, wenn wir uns daran erinnern, dass das Kind, das uns geboren wird, ein Jude war, meint Beatrice von Weizsäcker.
Neulich veröffentlichte der Drehbuchautor Michel Bergmann eine erschütternde Anklage. "Ich bin Deutscher, ich bin Autor, ich bin Jude", schrieb er in der FAZ. "Ich bin aber kein deutscher Jude, wie es allgemein heißt, sondern ein jüdischer Deutscher." Trotzdem werde er zum Stellvertreter eines Staates gemacht, dessen Bürger er nicht sei: Israel. Wenn er morgens das Haus verlasse, müsse er damit rechnen, dass jemand ein Hakenkreuz an die Wand schmiere oder einen Davidstern oder das Wort "Jude". Voller Angst gehe er an hohen Feiertagen in die Synagoge. "Können Sie sich das vorstellen?", fragt Bergmann. "Mit Herzklopfen zur Kirche zu gehen?"
Auch der Pianist Igor Levit findet deutliche Worte. Immer wieder kritisiert er, dass kaum jemand gegen Judenhass aufstehe. "Ja, ich verstehe dich", höre er dann, "aber Israel ist halt so kompliziert". Dabei gehe es nicht um Israel, sondern um eine "Explosion von Judenhass auf deutschen Straßen", wie er es nennt. Der Satz "Israel ist kompliziert" sei eine Ablenkung. "Ich bin nicht Israel. Ich bin kein Israeli. Ich bin ein Jude in Deutschland, der dich fragt, wo du bist. Und dann kommt gar nichts." "Eure Empathielosigkeit, euer Phlegma, eure Gemütlichkeit, vielleicht auch Faulheit, führen dazu, dass Menschen wie ich dieses Land verlassen müssen."
Das ist starker Tobak, aber wahr.
Doch es darf nicht wahr sein. Nicht bei uns, die wir das Schlimmste über die Menschheit gebracht haben, das man sich vorstellen kann: den Holocaust. Da darf es kein "Ja, aber" geben.
Natürlich kann man den Krieg im Nahen Osten kritisch sehen, denn vieles ist kritikwürdig. Niemand behauptet ernsthaft, die Menschen in Gaza und im Libanon seien ihm egal. Zu Recht beklagen wir die hohe Zahl der Toten und Verletzten. Jedes unschuldige Opfer ist eines zu viel. Das ist ja die Krux. Es ist ein schier unlösbarer Konflikt, in dem Unschuldige sterben, um Unschuldige zu retten: die Geiseln.
Trotzdem dürfen wir Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Das bestialische Massaker der Hamas-Terroristen gegen Israel am 7. Oktober 2023 bleibt verbunden mit jedem Leid, das täglich geschieht.
Doch was tun wir? Wir beschäftigen uns mit uns selbst. Wir machen Wahlkampf mit lautem Getöse und einem kalten Überbietungswettbewerb, egal, bei welchem Thema, besonders aber im Streit um Migration, radikale Abschiebungen und das Asylrecht. Darunter leiden vor allem Geflüchtete aus Syrien. Und die AfD? Sie hetzt weiter, wo sie nur kann. Ungeniert behauptet Alice Weidel, das Land werde "geflutet von fordernd auftretenden Migranten, die das Vorgefundene verachten".
Das führt zu Unmut und nicht selten Hass – auch gegen jüdische Menschen, die gar keine Ausländer sind. Die hohe Zahl antisemitischer Straftaten spricht Bände.
Gewiss, es ist kein schönes Thema zwei Tage vor Heiligabend, wo man es friedlich und behaglich haben will. Wo man von nichts behelligt werden will, was die Harmonie stört. Schon gar nicht von berechtigter Kritik. Aber vielleicht hilft es ja, wenn wir uns daran erinnern, dass das Kind, das uns geboren wird, ein Jude war. Und das Evangelium Jesu jüdische Wurzeln hat. So erkennen wir, dass uns viel weniger trennt, als viele meinen.
Vielleicht ist es sogar sinnvoll, gerade jetzt über die Kritik nachzudenken. Damit wir sehen, wie gut es uns geht, wenn wir am Heiligen Abend in die Kirche gehen. Ohne Angst und ohne Herzklopfen. Und wie viel wir tun können gegen Hetze und Antisemitismus. Ohne Risiko.