Bayern 2 - Zum Sonntag


4

Zum Sonntag Auf dem Weg in die Entweder-Oder-Gesellschaft

Bist Du dafür oder dagegen? Für Wärmepumpen? Gegen Waffenlieferungen in die Ukraine? Der gesellschaftlicher Diskurs färbt sich zunehmend in schwarz-weiß, findet die Münchner Autorin Lena Gorelik.

Von: Lena Gorelik

Stand: 07.06.2024

Zum Sonntag: Auf dem Weg in die Entweder-Oder-Gesellschaft

Abschieben? Ja. So ungefähr geht die Debatte, die nach dem Angriff eines Mannes auf einer Veranstaltung der islamkritischen Bewegung Pax Europa in Mannheim, bei der fünf Menschen verletzt werden und ein Polizist sterben muss, hoch kocht. Der Hintergrund des Täters ist klar: der biographische (er stammt auf Afghanistan) sowie der politische (er soll radikaler Islamist sei). Der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann fordert, wer durch Hasspredigten auffalle, müsse strafrechtlich belangt und abgeschoben werden, auch Mitglieder der Grünen wollen stärker gegen Islamismus vorgehen. Und dann wird wieder diskutiert über mögliche Abschiebegründe und sichere Abschiebeländer, das bringt vielleicht Wähler:innen-Stimmen oder vermittelt den Menschen zumindest ein vermeintliches Gefühl von Sicherheit: Wir kümmern uns um das Problem, schützen Euch.

          Schützen wovor? Welches Problem? Vor möglicher Gewalt? Als ließe sie sich mit Abschiebungen ausrotten, als wäre die zunehmende Gewaltbereitschaft nicht ein Phänomen, das sich aus verschiedenen Richtungen beobachten lässt. In den Wochen vor den Europawahlen wurden Politiker:innen und Wahlkampfhelfer:innen aller Couleur angegriffen. Der sächsische SPD-Spitzenkandidat Matthias Ecke wurde in Dresden krankenhausreif zusammengeschlagen, als er Wahlplakate aufhängte. Der Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey wurde mit etwas Hartem auf den Kopf geschlagen. Grünen-Politiker:innen wurden genauso angegriffen wie ein AfD-Kandidat in Mannheim, nur wenige Tage nach dem Tod des Polizisten.

          Die Frage, die angesichts solcher Angriffe, oder angesichts von Brandanschlägen auf Wahlbüros gestellt werden muss, ist nicht die, ob nach Afghanistan abgeschoben werden solle und dürfe, sondern die, warum Gewalt - in einer Demokratie - immer häufiger zu einem Mittel wird, Unzufriedenheit mit politischen Umständen auszudrücken. Wie es dazu kommt, dass sie sich zu einem Ausdruck politischer Positionierung gebart.

          Radikalisierung ist eine ansteckende Krankheit, sie greift schnell um sich. Das gilt für Rechte wie für Linke, für religiös motivierte Ideologien wie für Verschwörungstheorien. Radikalisierung kommt aber nicht von ungefähr, sie braucht nährenden Boden. Sie gedeiht schneller in einem politischen Diskurs, in dem es nur zwei Positionen gibt, ein Entweder-Oder, man ist für Abschiebungen oder dagegen, für Israel oder Palästina, für Klimaschutzmaßnahmen oder dagegen, für die Armen oder die Reichen, man meint zu schnell, zu eindeutig und zu klar sehen zu können, wer der Feind ist. Der Raum für Abweichungen, aber auch für Argumente, für Differenzierungen, für Analysen, für "ja, aber auch" und "nein, obwohl" wird eng, bis er nicht mehr sichtbar ist. Wenn in diesem engen Raum nur der Feind zu sehen ist, wenn er als solcher definiert und bestätigt wird, wird schneller zu Gewalt als Mittel gegriffen, weil der Feind zu vernichten gilt. 

          Statt der Frage "pro oder contra" muss der politische Diskurs sich an andere, vergessene - differenzierende - Fragen erinnern: In welcher Form? Auf welche Weise? Unter welchen Umständen, in welchem Kontext? Er muss an das erinnern, was Ausgangspunkt wie Ziel von Demokratie ist: Ambivalenzen aushalten und darin vereinen. Er muss Zwischenräume denken, Argumenten muss eine Analyse voran gehen, ein gemeinsames Nachdenken. Er muss Fragen stellen, anstatt vereinfachte Antworten anzubieten. Die dringendste Frage angesichts von zunehmender Gewalt ist, wie diese entstehen konnte, was schiefgelaufen ist, wie sich ihr entgegenwirken lässt - und nicht die, ob einzelne Personen abgeschoben werden sollten.


4