Zum Sonntag Religionsunterricht: Nicht notwendig, aber wichtig
Passend zum Schulanfang nach den Sommerferien denkt "Zum Sonntag"-Autor Michael Schrom über den Religionsunterricht als Schulfach nach. Das Fach sei zwar nicht notwendig – und gerade deshalb, paradox, so wichtig.
Vor einer Woche wurde meine Tochter ins Gymnasium eingeschult, zusammen mit über 200 Schülerinnen und Schülern. Die Nervosität – kaum auszuhalten. Der erste Eindruck – überwältigend. Allein das riesige Gebäude. Und dann der einschüchternde Stundenplan. So vielen neuen Fächern, die vor allem eines signalisierten: Streng Dich an! Der Schulleiter versuchte zwar, in seinem Grußwort den Druck zu lindern, indem er mehrmals sagte: Alles wird gut. Aber in den Augen meiner Tochter konnte ich die Frage lesen: Glaubt er, was er da sagt?
"Vergleich dich nicht mit den anderen"
Zwei Tage später hatte sich die Situation deutlich entspannt. Nicht nur, dass die neuen Klassenkameradinnen und Lehrer einen netten Eindruck machten. Die Klasse hat Post bekommen von älteren Schülerinnen und Schülern. Jede und jeder durfte einen Brief ziehen. Im Brief meiner Tochter stand unter anderem: "Mein Geheimtipp an Dich für ein gutes Leben an der neuen Schule: Vergleich dich nicht mit den anderen, ob sie dünner oder dicker, schneller oder langsamer, erfolgreicher oder weniger erfolgreich sind – all das spielt keine Rolle. Gehe respektvoll um. Mit Dir und den anderen."
Diese Worte – ich merkte es, als sie mir den Brief zeigte – trafen ins Herz. Die Idee zu diesem Brief hatte die Fachschaft Ethik-Religion. Und noch etwas erleichterte den Übergang: Der Eröffnungsgottesdienst. Er kreiste um das Psalmwort: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum"; die musikalische Umsetzung war Mutmacher und Ohrwurm zugleich.
Unterrichtsfach Religion – ein Biotop mit Unschärfe
Religion ist ein Fach mit einer gewissen Unschärfe. Eine Melange aus Wissen und Überzeugung, aus Glaubensinhalten und Philosophie, aus Privatem und hoch Politischem, aus Moral, Ethik, Geistesgeschichte, Kunst und Kultur immer mit einer Tendenz ins Persönliche, ja Zeugnishafte Religionsunterricht ist in gewisser Weise ein Biotop – und es ist hoch umstritten, ob es schützenswert ist oder nicht.
Es erschließt sich nicht sofort, warum er heute noch gelehrt werden soll, zumal die Zahl der religiös Unmusikalischen zunimmt und der Aderlass der Kirchen anhält. Die Schülervertretung des Landes Baden-Württemberg forderte Anfang des Jahres eine Reduktion des Religionsunterrichts zugunsten von politischer Bildung.
Nicht-Notwendiges ist fürs Menschsein elementar
Religionsunterricht ist nicht notwendig. Aber die Schlussfolgerung, alles Nicht-Notwendige zu streichen, führt in eine enge Sackgasse. Das Gegenteil ist richtig: Zum Menschsein gehört die Beschäftigung mit dem Nicht-Notwendigen elementar dazu. Dazu gehören die Grenzfragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn, nach Gemeinschaft, Trost, Gerechtigkeit, Endlichkeit und Hoffnung ebenso wie die Einübung in eine Haltung der Achtsamkeit vor dem Leben: Wieso ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts.
Selbstverständlich kann man ein guter Schüler sein, ohne allzu viel Zeit auf diese Fragen zu verschwenden. Aber sie tauchen früher oder später auf. Ein guter Religionsunterricht macht deshalb schon früh für diese Fragen sensibel. Und er macht idealerweise Schülerinnen und Schüler diesbezüglich sprachfähig – nicht in dem Sinne, dass es immer die eine passende Antwort gibt. Wohl aber, dass man Argumente für seine Überzeugungen findet. Denn religiöser Extremismus wächst nicht selten auf religiöser Ahnungslosigkeit.
Richtige Worte an wichtigen Lebensschwellen
Bei der Einschulungsfeier meiner Tochter musste ich an den Satz von Martin Buber denken, wonach Erfolg keiner der Namen Gottes ist. Ich freute mich, dass es diesen schönen Eröffnungsgottesdienst gab. Und dass es an der neuen Schule offensichtlich sensible Religions- und Ethiklehrer gibt, die es vermochten, in ihren Klassen Empathie zu wecken für die Ängste der Neuankömmlinge, so dass sie jene Briefe formulierten, von denen ein Exemplar bei uns auf dem Küchentisch landete. An den Schwellen des Lebens das passende Wort zu finden, ist eine zutiefst menschliche, im letzten eine religiöse Kompetenz.