Zum Sonntag Gott ist ein Freund der Freiheit
Wie kann es sein, dass Religion im 21. Jahrhundert weltweit zu einem so scharfen Identitätsmarker für Nationalisten geworden ist? In Deutschland ist das Erschrecken besonders groß, hatte man hier und im säkularisierten Westeuropa doch gedacht, Religion sei Privatsache. Welch ein Irrtum, sagt Michael Schrom.
In Moskau erklärte jüngst Patriarch Kyrill den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem Heiligen Krieg. In Indien weihte Ministerpräsident Modi im Januar den drittgrößten Hindu-Tempel der Welt ein, errichtet auf dem Gelände einer jahrhundertealten Moschee, die 1992 von einem fanatischen Mob dem Erdboden gleichgemacht wurde. In Hamburg demonstrierten kürzlich tausende Muslime für ein Kalifat. Und in seinem Buch nennt der ehemalige AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah das Christentum einen natürlichen Verbündeten der rechten Bewegung. Ärgerlich, so Krah, sei nur, dass das westliche Christentum in einem derart desolaten Zustand sei, dass es als Partner ausscheide.
Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich: Wie kann es sein, dass Religion im 21. Jahrhundert weltweit zu einem so scharfen Identitätsmarker für Nationalisten geworden ist? In Deutschland ist das Erschrecken besonders groß, hatte man hier und im säkularisierten Westeuropa doch gedacht, Religion sei Privatsache. Welch ein Irrtum.
Natürlich verbieten sich Pauschalurteile. Indien ist anders als Russland. Den politischen Islam kann man nicht mit dem institutionalisierten Christentum des Westens vergleichen. Und doch: Allen Beispielen gemeinsam ist die tiefe Ablehnung der liberalen, aufgeklärten Kultur und ihrer demokratischen Organisationsform. Vertreter dieser politischen Theologie nutzen die Religion gezielt zur Ab- und Ausgrenzung. Denn sie wissen: kaum etwas eignet sich besser dafür.
Auch das westliche Christentum ist nicht per se immun gegen eine Verbrüderung mit dem Nationalismus, gegen die identitäre Versuchung. "Christentum und Demokratie – das geht gut zusammen" – diesen Satz habe ich in letzter Zeit oft gehört. Bei den Feierlichkeiten zum Geburtstag des Grundgesetzes zum Beispiel. Oder beim Katholikentag in Erfurt. Richtig ist, dass die Kirchen in der Nachkriegszeit große Verdienste beim Aufbau der Zivilgesellschaft hatten. Ihre Führungskräfte in Deutschland sind glaubwürdige Verteidiger der Demokratie. Aber weder in der Weimarer Republik noch in der Gründungsphase der Bundesrepublik waren die Bischöfe beider Kirchen überzeugte Demokraten. Ganz im Gegenteil. Sie misstrauten dem Prinzip der Volksouveränität. Und heute, wo die Demokratie in Europa in so vielen Ländern unter Druck gerät, müssen sich die Kirchen fragen, ob sie genug tun für die Demokratie – oder ob sie einstimmen in das Klagelied, wonach alles immer schlechter werde. Und sie müssen sich fragen, ob sie in der liberalen Demokratie eine "Diktatur des Relativismus" (Papst Benedikt XVI.) sehen wollen, so dass am Ende womöglich nur noch ein starker Mann oder eine starke Frau in der Lage ist, die Geschicke des Volkes zu lenken. Freiheit hin oder her.
In Zeiten wie diesen kann es Christinnen und Christen helfen, ihre eigenen Glaubenstraditionen zu kennen. Die jüngeren Wurzeln der Demokratie gehen zurück auf die Gründung der Vereinigten Staaten, die Französische Revolution, auf den Humanismus, die Reformation und die Aufklärung. Doch die geistesgeschichtlichen Wurzeln reichen bis in die Antike, sie finden sich vor allem in der Erzählung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Schöpfungsgeschichte. Diese Aussage kommt einer Revolution gleich, denn die Gottebenbildlichkeit galt im Alten Orient lediglich in Bezug auf den König.
Der Gott, auf den die Christen hoffen, hat die Menschen frei geschaffen, gleichberechtigt als Mann und Frau. Er hat sogar sein Ankommen in der Welt vom freien Ja eines Menschen, von Maria, abhängig gemacht. Gott ist ein Freund der Freiheit. Wenn aber der christliche Gott ein Freund der Freiheit ist, dann muss auch die Kirche eine Freundin der Freiheit sein. Gerade jetzt, in der die Freiheit von innen und von außen so sehr bedroht ist.