Bayern 2 - Zum Sonntag


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Zum Sonntag Das Heilige Jahr: Provokation in moderner Zeit

Das "Heilige Jahr" bietet eine wichtige Botschaft, sagt Michael Schrom: Die Öffnung der heiligen Pforten symbolisiert Hoffnung und die Möglichkeit des Wandels.

Von: Michael Schrom

Stand: 10.01.2025 14:48 Uhr

Zum Sonntag: Das Heilige Jahr: Provokation in moderner Zeit

Für nicht religiös sozialisierte Menschen hört sich das "Heilige Jahr", das Papst Franziskus an Weihnachten ausgerufen hat, wie eine skurrile Mischung aus Aberglauben und Geschäftemacherei an. Über 30 Millionen Pilgerinnen und Pilger werden in den kommenden Monaten in Rom erwartet, was die Tourismusbranche freuen dürfte. Und wer mindestens eine der vier heiligen Pforten der römischen Basiliken nach Vollzug der Beichte und in rechter Gesinnung durchschreitet, kann einen vollkommenen Ablass erlangen. Darunter versteht man den "Erlass einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind", wie es das Lexikon für Theologie und Kirche formuliert.

Man kann das Ablasswesen, das auf der mittelalterlichen Straflogik beruht und das es nur in der katholischen Kirche gibt, getrost als theologischen Mummenschanz betrachtet. Es ist nicht nur ein fortwährendes ökumenisches Ärgernis, auch die dahinterstehende Logik ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Wie kann eine Institution, die aus Menschen besteht, sich anmaßen, über das Gerichtshandeln Gottes zu verfügen?

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf das Heilige Jahr. Allerdings aus einer anderen Perspektive. Zum Ritus des "Heiligen Jahres" gehört die feierliche Öffnung der Türen, die ansonsten vermauert sind. In einer Zeit, in der weltweit überall Grenzen abgesteckt und Zäune hochgezogen werden, sind weitgeöffnete Türen ein provozierendes Gegenbild. Es erinnert daran, dass Mauern auch fallen und nichts für immer verschlossen sein muss. Wie viele Türen, symbolisch und real, könnten noch geöffnet, wie viele Mauern noch niedergerissen werden? Dass Papst Franziskus auch eine "heilige Pforte" an dem größten Gefängnis Roms öffnete und einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt forderte, passt ins Bild. Hoffnung für die Hoffnungslosen zu stiften, ist eine urchristliche Aufgabe.

Das "Heilige Jahr" beruht auf einem jüdischen Vorbild. Im Buch Levitikus heißt es, dass jedes 50. Jahr als Jubeljahr gelten soll: "Erklärt dieses 50. Jahr für heilig und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus." Diesen Brauch greift die Kirche auf, wenn sie seit dem Mittelalter alle 25 Jahre ein Heiliges Jahr ausruft und zu Umkehr und Werken der Barmherzigkeit aufruft.

Das Heilige Jahr erinnert Christinnen und Christen zudem daran, dass sie einen geschichtlich handelnden Gott bekennen. Dass die Geschichtstheologie mit ihrem Hang zum Triumphalismus und zur "göttlichen Vorherbestimmung" auch Abgründe und Risiken in sich birgt ist unbestreitbar (und muss hier nicht weiter ausgeführt werden.) Entscheidend ist vielmehr die Glaubensaussage, dass Gott die Welt nicht egal ist, dass er sie zum Guten hin verändern möchte und dass er dies nicht mit Gewalt oder am jüngsten Tag tut, sondern inmitten der Geschichte, in einem Stall an der Peripherie des römischen Reiches. (Auch das ist eine Provokation in religionsfernen Zeiten, in denen sich ganze Gesellschaften in atemberaubender Geschwindigkeit vom Christentum und damit auch von einem christlichen Zeitverständnis abwenden. Es macht aber einen Unterschied, ob man ein zyklisches oder ein lineares Zeitverständnis hat.)

Der Gedanke, dass Gott zum Guten lockt und für das Gute wirbt, könnte daher eine heilsame Provokation sein. (Denn es ist für eine Gemeinschaft nicht gut, wenn jede und jeder nur daran denkt, wie er möglichst gut und unbeschadet durch die Zeit kommt.)

Nos sumus tempora - wir sind die Zeit, heißt es bei Augustinus. Wir entscheiden, wie wir die Gegenwart ins Verhältnis zur Zukunft und zur Vergangenheit setzen, welche Zeitfenster wir nutzen, welche Pforten wir (wieder) öffnen, welchen Wegen wir folgen, wem wir unsere Aufmerksamkeit, unsere Freizeit und unseren Einsatz schenken. Oder, um es mit den Worten von Papst Franziskus im Gefängnis von Rebibbia zu formulieren: "Die wichtigste Tür ist die des Herzens. (Geschlossene Herzen machen uns hart wie Stein.)"

Insofern ist jede Zeit eine heilige Zeit, jedes Jahr ein heiliges Jahr, das es zu nutzen gilt.


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