Zum Sonntag Blumengießen trotz Multi-Krise
Mit bitterbösen Worten mokierte sich einst Georg Kreisler über spießbürgerliche Scheuklappenmentalität. Dabei muss Blumengießen angesichts der Multi-Krise keine Realitätsflucht sein, meint Nina Achminow.
An unserer Kühlschranktür hing jahrelang ein Stück Zeitungspapier, das mein Mann ausgerissen hatte. Ein Liedtext von Georg Kreisler: "Blumen gießen". Der Text ist locker vierzig Jahre alt. Kreislers Liedbeginn ist oft paraphrasiert worden. Und er passt immer wieder. Wenn es dunkel wird in Saporischschja, und die Russen zücken das Gewehr - wenn es dunkel wird, im Nahen Osten, und die Siedler zücken das Gewehr - oder die Hamas tut es - dann geh' ich Blumen gießen, singt Kreisler. Blumen gießen. Den Winterheckenkräutern kann man Politik ja nicht erläutern. Mein Blätterkohl fühlt sich pudelwohl beim Blumengießen, Herz, was willst du noch mehr?
Die Welt ist unübersichtlich geworden. Und sehr beängstigend. Eine globale Schreckensmeldung jagt die nächste. Und es wird immer schwieriger, sich klare Lösungen vorzustellen für die großen Krisen unserer Zeit. Umso größer scheint mir das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Und: sich innerhalb der eigenen Bubble, innerhalb des eigenen Umfeldes die richtige Meinung zu bestätigen. In den sozialen Medien lässt sich das manchmal wie in einem Brennglas beobachten. Aber auch in der analogen Welt, scheint es mir, sprechen wir kaum noch wirklich mit Menschen, die andere Ansichten haben.
Es ist ja auch manchmal schwer auszuhalten. Eine Rentnerin aus meiner Straße, engagierte Hundehalterin, steigert sich in ihrem Lamento über die Politik bis zu der Aussage, früher seien es die Juden gewesen, heute die Kampfhunde, und in Zukunft seien es die Rentner! Bevor ich sie fragen kann, wie ich das jetzt missverstehen dürfe, geht sie schon wieder ihrer Wege. Und ich lasse sie gehen. Ein Mann in mittleren Jahren, neben dem ich in der Eisenbahn sitze, findet, die von der Regierung hätten kein Konzept, und jetzt, meint er, sollen mal "die anderen" machen. Mit diesem Argument hat meine Oma damals Adolf Hitler gewählt. Sage ich das jetzt? Nein. Ich schweige. Eine Kollegin trägt eine Palästina - Flagge. Frage ich sie nach Israel? Um Gottes Willen. Eine Bekannte postet Memos, die die Gesellschaft in Aufgeweckte und Schlafende einteilt. Raten wir mal, für was sie sich selbst hält. Derweil sammelt eine gute Freundin Stimmen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, weil die CO2 - Bilanz von Munition die Klimakatastrophe beschleunigt. Und mir fällt nichts mehr ein.
Wenn es dunkel wird über Europa, und die Propagandisten zücken schlichte Thesen, was mache ich dann? Gehe ich dann Blumen gießen? Ziehe mich zurück und danke Gott, dass ich nicht bin wie diese da? Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner passt natürlich nicht wirklich. Politische Meinungsbildung ist kein Gebet. Und die Menschen aus meinen Beispielen sind sicher nicht zerknirscht ob ihrer aus meiner Sicht zu schlichten Weltsicht. Aber haben wir, die Guten, die Gebildeten, die Toleranten, die Differenzierenden nicht vielleicht auch manchmal ein etwas zu schlichtes Weltbild, läuft nicht vielleicht auch in unseren Komfortzonen etwas falsch, wenn wir nicht mehr fähig sind, uns außerhalb unserer Blase konstruktiv auszutauschen und auseinanderzusetzen? Und welcher Sache dient es, wenn wir uns schweigend zurückziehen?
Die Welt ist unübersichtlich geworden. Das kommt davon, wenn sich der Horizont erweitert. Wir leben - zum Glück! - in einer Gesellschaft, die uns einen weiten Horizont ermöglicht. Wir leben in einer Demokratie, in der wir streiten dürfen. Und wir müssen es. Schon allein, damit sie uns nicht verloren geht. Die Demokratie. Wir müssen reden. Streiten. Um Konzepte. Um Zeichen. Um das, was möglich ist. Und um Kompromisse. Die wir erringen müssen. Um der Sache willen. Aber so lange wir uns diesem Anspruch stellen - so lange dürfen wir, finde ich, manchmal auch einfach nur Blumen gießen.