Zum Sonntag Bundesgerichtshof bestätigt Schuld von KZ-Sekretärin
Der Bundesgerichtshof in Leizpig hat entschieden: Irmgard F. ist schuldig der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in fünf Fällen. Ist es übertrieben, wenn eine 99-Jährige vor Gericht gestellt wird, wegen ihrer Mitschuld an NS-Verbrechen? Nein, es ist richtig und es ist gut, findet Stephan Anpalagan.
Das Urteil ist rechtskräftig. Irmgard F. ist schuldig wegen der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen. Es gilt als möglicherweise letztes Urteil gegen Verantwortliche der Shoah, die mit ihrem Tun den millionenfachen Mord an Juden, Sinti, Roma, politischen Gegnern, Menschen mit Behinderung sowie vielen sowjetischen, polnischen und serbischen Zivilisten zu verantworten haben.
Vier Anläufe brauchte es, bis in der Bundesrepublik Deutschland der Straftatbestand "Mord" aus den bis dahin geltenden Verjährungsfristen ausgeschlossen wurde. Bereits 1960, 1965 und 1969 verhandelte der Bundestag ausführlich und erbittert über die drohende Verjährung der nationalsozialistischen Verbrechen und die bevorstehende Straffreiheit der verantwortlichen Mörder und ihrer Beihilfen. Nachdem der Alliierte Kontrollrat im Kontrollratsgesetz die Verjährung bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgehoben hatte, galt nach der Neubekanntmachung im Jahr 1953 das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Es gilt bis heute.
In seiner Fassung bis 1979 regelte es für Verbrechen, die mit lebenslangen Freiheitsstrafen geahndet wurden, erst eine Verjährungsfrist von 20, später von 30 Jahren. Nationalsozialistische Mörder hätten also 1969, beziehungsweise 1979 straffrei ausgehen können. Es war nicht unbedingt so, dass sie einem erhöhten Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. Wer zu kleinen, mittleren und großen Teilen an der nationalsozialistischen Diktatur, dem Massenmord und dem Zivilisationsbruch beteiligt war, hatte nach Kriegsende gute Chancen ohne jeglichen Ärger und unbehelligt von Strafverfolgung in die Gesellschaft zurückzukehren.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist voll von ehemaligen Nationalsozialisten, die nach einem Umtausch von Uniformen und Abzeichen als Polizisten, Richter, Ärzte, Lehrer und Ministerialbemate weiterarbeiten. Die Politik erkennt in ihnen gar ein Wählerpotenzial und beschließt, dass sich die Zeit in NS-Regime, Wehrmacht und Waffen-SS als Zeitraum für die Rente anrechnen lassen, was dazu führt, dass die Opfer der Shoah bis heute um Anerkennung und Wiedergutmachung kämpfen, während die Täter des Massenmords bis zu ihrem Lebensende vom deutschen Staat versorgt werden.
Der Generalstaatsanwalt Wolfgang Fränkel muss zurücktreten, nachdem herauskommt, dass er im NS-Apparat 30 fragwürdige Todesurteile unterzeichnet hat. Die Ludwigsburger Zentralstelle für Kriegsverbrechen wird von einem ehemaligen NSDAP- und SS-Juristen geleitet, der die Arbeit der eigenen Behörde nach Kräften sabotiert. Der engste Vertraute von Bundeskanzler Konrad Adenauer, ein gewisser Hans Globke, gilt als engagierter Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze. Adenauer betraut ihn ausgerechnet mit der Einrichtung und Führung des neugegründeten Verfassungsschutzes.
Vom großen Fritz Bauer, dem jüdischen Frankfurter Generalsaatsanwalt und treibenden Kopf hinter den Auschwitz-Prozessen ist der Satz überliefert: "Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland". Derart viele ehemalige NS-Kameraden arbeiten in seiner Behörde, dass Bauer nicht nur für Gerechtigkeit, sondern auch gegen seine Kollegen ankämpfen muss. Der Umgang mit den Tätern des NS-Regimes ist geprägt von Nachsicht und Zurückhaltung.
Am 3. Juli 1979 beschließt der Bundestag die Verjährung für Mord ausdrücklich aufzuheben. Anteil daran hat auch die Ausstrahlung der Fernsehserie "Holocaust - die Geschichte der Familie Weiß". Das Fernsehformat führt in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung zu Erschütterung, aber auch Erkenntnis über die Tatbeteiligung der eigenen Familie. Das wiederum führt zu einem neuen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Weder die kleinen noch die großen Täter sollen ihrer gerechten Strafe entkommen. Sie sollen sich in einem demokratischen Prozess verantworten, zuhören und aussprechen, was ihnen vorgeworfen wird. Die Tat selbst liegt lange zurück. Die zuweilen unvorstellbaren Taten lassen sich in diesem Leben nicht mehr sühnen.
Auch das Leben nach der Tat ist geprägt von Ungerechtigkeit. Dass dieses Land aber keinen Schlussstrich zulässt, nicht abhakt und weitermacht, als wäre nichts gewesen, ist von immenser Bedeutung. Irmgard F. hatte bis zuletzt die Möglichkeit Schuld zu bekennen, Reue zu zeigen und um Vergebung zu erbitten. Sie hat all dies nicht getan. Sie ist schuldig. Sie wurde verurteilt. Mord verjährt nie. Und das ist auch gut so.