Bayern 2 - Zum Sonntag


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Zum Sonntag Der Osten ist nicht verloren

Der Osten ist verloren - so heißt es reflexartig wenn politische Wahlergebnisse öffentlich werden. Stephan Anpalagan meint, damit macht man es sich zu einfach. Der Theologe und Autor ist Geschäftsführer der gemeinnützigen Strategieberatung "Demokratie in Arbeit".

Von: Stephan Anpalagan

Stand: 14.06.2024

Zum Sonntag: Der Osten ist nicht verloren

Es ist ein Satz, der das gesamte Elend der politischen Lage auf den Punkt bringt. Wann immer eine Wahl ansteht, wann immer Wahlergebnisse öffentlich werden, wann immer sich die Ratlosigkeit der Bundesrepublik über das Versagen der demokratischen Kräfte entlädt, hört man diesen Satz. Dieser eine Satz, man hört ihn seit 34 Jahren und er schmerzt heute mehr als je zuvor. "Der Osten" so heißt es "ist verloren".

Die Alternative für Deutschland ist in allen fünf Bundesländern Ostdeutschlands stärkste Kraft. Sie dominiert die politische Auseinandersetzung, die gesellschaftliche Stimmung und den Alltag der Menschen. In manchen Wahlen ist die AfD derart stark, dass sie stärker ist als alle anderen Parteien zusammen. Und das, obwohl sie in mehreren ostdeutschen Bundesländern vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird. Allein in Sachsen trieben mit der "Zwickauer Terrorzelle", der "Gruppe Freital", "Revolution Chemnitz" und der "Old School Society" mehrere rechte Terrororganisationen ihr Unwesen. Die Bilder der ausländerfeindlichen Angriffe aus Clausnitz, Heidenau und Bautzen gingen um die Welt. "PEGIDA" wurde in Dresden geboren. Wo die B96 durch die Oberlausitz führt, ist sie Heimat entfesselter Wutbürger.

Es wäre äußerst bequem in dieser Gemengelage auf die Ostdeutschen zu schimpfen. Ihnen Demokratieverachtung und Diktatursozialisierung vorzuwerfen. In den Tagen nach der Europawahl 2024 heißt es an vielen Stellen, der Osten sei verloren. Ein Satire-Magazin titelt, langsam werde immer klarer, was mit dem Begriff "Antifaschistischer Schutzwall" gemeint war. Dazu ein Bild von dem Wahlergebnis und dem flächendeckenden Sieg der AfD in Ostdeutschland. Eine Mauer, um die Westdeutschen vor den Ostdeutschen zu schützen. Ein Wall, der die Guten von den Bösen, die Klugen von den Querdenkern trennt.

Ich muss an meine ostdeutschen Freunde denken, die seit Jahren unerschrocken für ihre Heimat kämpfen. Die sich gegen den Rechtsextremismus zur Wehr setzen, die antifaschistische Organisationen gründen und den Menschen beistehen, die ins Visier der Neonazis geraten. Die ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel setzen, weil sie diejenigen sind, die von rechten Terrororganisationen bedroht und von gewaltbereiten Faschos zusammengeschlagen werden. Ich bin schlichtweg fassungslos über so viel westdeutsche Überheblichkeit, mit der einige hierzulande auf ihre ostdeutschen Mitmenschen herabschauen, sie herabwürdigen und zu Bürgern zweiter Klasse degradieren. Deutsche auf Bewährung, diese Erniedrigung haben Migranten und Ostdeutsche gemein. Während die einen bereits bei kleineren Verfehlungen ausgebürgert und abgeschoben werden sollen, werden die anderen bei jeder Landtags-, Bundestags- und Europawahl regelmäßig verloren gegeben. Die weißen Westdeutschen möchten ihre Ruhe haben. Sie möchten sich selbst und ihre Demokratie feiern. Die Migranten und Ostdeutschen stören dabei nur.

Was aber ist das für ein Menschenbild, bei dem die Anderen jedes Mal aus der Welt geschafft werden, wenn es unbequem wird? Bei dem man sich selbst überhöht und dabei vergisst, dass man auch oft genug auf Nachsicht, Güte und Vergebung angewiesen war? Dass Rechtsextremismus auch ein relevantes westdeutsches Phänomen ist? Dass Neonazis in München, Hamburg, Mölln, Solingen, Lübeck, Kassel und Hanau mordeten? Dass die AfD in nahezu allen westdeutschen Parlamenten sitzt und dort ihr Unwesen treibt? Ausgerechnet in Friedrich Schillers "Ode an die Freude", der europäischen Hymne, heißt es zum Ende der ersten Strophe "Alle Menschen werden Brüder". Was für ein schönes Wort. Und unabhängig davon, ob es Brüder oder Schwestern sind, wollen wir ernsthaft auf diese Art und Weise mit unseren Geschwistern umgehen? Sie jedes Mal zur Adoption freigeben, wenn uns ihre Lebensentscheidungen nicht passen? Wenn sie sich danebenbenehmen oder straffällig werden?

Eine Familie bleibt beieinander, steht einander bei, unterstützt materiell und emotional. Hält Kontakt auch über Grenzen hinweg. In guten und in schlechten Tagen. Wir sollten dringend aufhören, unsere Brüder, Schwestern, Mitmenschen und Mitbürger aufzugeben und stattdessen nachzuschauen, wo wir Hilfe anbieten und Lasten abnehmen können. Wo die Starken in einer Gemeinschaft die Schwachen unterstützen und die Gesunden die Kranken tragen können. Wer es schafft, die schlechten Tage gemeinsam durchzustehen, kann anschließend die guten Tage zusammen erleben. Der Osten ist nicht verloren. Die Ostdeutschen sind nicht verloren. Nicht jetzt und auch nicht Zukunft.


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