Zum Sonntag Rückzug von X - Menschenwürde soll unantastbar bleiben
Universitäten, Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller - auch die Bundeswehr und die katholische Kirche haben sich entschieden, die Plattform "X" zu verlassen. Ein wichtiger Schritt, findet Stephan Anpalagan. Denn: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Dutzende Universitäten. Zahlreiche Wissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller. Nun also auch die Bundeswehr. Zuletzt die katholische Kirche. Es ist eine illustre Runde, die sich dafür entschieden hat, die Plattform "X", ehemals "Twitter", zu verlassen.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Seit Elon Musk Twitter gekauft und 80 Prozent der dort tätigen Mitarbeiter entlassen hat, hat sich die ehemals lebendige Plattform in nahezu allen Belangen zum schlechteren verändert. Das neuerliche Maß an Desinformation in Bezug auf den russischen Angriff auf die Ukraine oder den Terroranschlag der Hamas ist atemberaubend.
Im September 2023 veröffentlichen 100 jüdische Organisationen in den USA einen offenen Brief an Elon Musk und kritisieren den massiven Anstieg an antisemitischen Beiträgen auf der Plattform. Es deckt sich mit den Beobachtungen der ehemaligen Antisemitismusbeauftragten in NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die ebenfalls im Jahr 2023 in eindringlichen Worten die Chefetage von Twitter dazu aufruft, den Kampf gegen die Judenfeindlichkeit ernst zu nehmen.
Wer die Debatten der vergangenen Tage verfolgt hat, wird feststellen, dass es in der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und der strafrechtlichen Verfolgung von Äußerungsdelikten genau daran mangelt: Verantwortung.
Einem Bericht der BBC zufolge steigt seit der Übernahme Twitters durch Elon Musk nahezu jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf der Plattform, darunter Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Schwulen-, Lesben- und Transfeindlichkeit. Aus dem Jahr 2023 offenbaren Insider-Informationen, wonach selbst die Entfernung von Kinderpornographie nun der Vergangenheit angehöre. Weil Elon Musk derart viele Inhalteprüfer gefeuert habe, gebe es niemanden mehr, der solche Inhalte analysiert und löscht.
Zuletzt geriet Elon Musk in die Schlagzeilen, weil er sich als Unterstützer der AfD entpuppte. Seinen Wahlaufruf für die Alternative für Deutschland druckten die Kollegen von der "Welt am Sonntag" in bemerkenswerter Verkennung der deutschen Geschichte und der demokratischen Gepflogenheiten, nur um anschließend selbst in einen Sturm der Kritik zu geraten.
Dabei bräuchte es Klugheit, Weitsicht und Verantwortung mehr denn je. In Myanmar und Indien weiß man, welche Konsequenzen entfesselte Social-Media-Plattformen für eine Gesellschaft haben können. In Myanmar befeuerten Hassbeiträge der staatlichen Armee die Herabwürdigung, Ausgrenzung und schließlich den Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya. In Indien waren es Falschmeldungen und Desinformation, die ebenfalls zu mehreren Mordwellen gegen die muslimischen Minderheiten im Land führten.
Auch in Deutschland sollte nach dem Mord an Walter Lübcke bekannt sein, wozu Hass, Hetze und Verleumdung führen. Walter Lübcke, CDU-Politiker und Landrat in Hessen, wurde von einem Rechtsextremen ermordet, weil Neonazis über Wochen und Monate gegen ihn mobilisiert hatten, weil seine Ankündigung, eine Flüchtlingsunterkunft bauen zu lassen, den Hass gegen ihn im digitalen Raum aufgeschaukelt hat. Weil selbst konservative Politiker die extremistischen Kräfte im digitalen Raum entfesselt haben.
Wenig überraschend sind es zu allererst die Minderheiten, die von alledem als erstes betroffen sind. Migranten, Juden und Frauen bekommen frontal zu spüren, was eine Verrohung der Sitten und ein Verlust der Umgangsformen bedeuten können. Etablierte Medien wissen um ihre Verantwortung und haben sich in Form des Pressekodex ethische Standards für Journalismus und Berichterstattung gegeben. Sie sollen die Achtung der Menschenwürde und den Schutz der Persönlichkeit sichern, Kinder und Jugendliche aus dem Schussfeld nehmen und Zustände wie in Myanmar und Indien verhindern. Was aber tut man, wenn auf sozialen Plattformen solche Normen missachtet werden? Wenn der reichste Mann der Welt mit der größten Plattform der Welt sie bewusst überschreitet?
Auch wir als Gesellschaft haben eine Verantwortung zum Schutz der Minderheiten in unserem Land. Eine Verantwortung gegenüber den Armen, Alten, Kranken und Schwachen. Gegenüber Kindern und Jugendlichen. Wir sollten sie endlich Ernst nehmen und diejenigen in die Schranken weisen, deren erklärtes Ziel die Zerstörung unserer Kultur, unserer Werte und unserer Gemeinschaft ist. Und wir sollten es auch dann tun, wenn die Missetäter keine vermeintlich "Fremden" sind, sondern so aussehen wie wir.
Niemand steht über dem Gesetz. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das allein sollte uns ausreichen.