Studieren im Alter Was Hänschen nicht lernte, will Hans unbedingt wissen
Viele erwarten ihn, manche fürchten ihn: den Ruhestand. Was machen mit der ganze Zeit? Einige nutzen sie für einen Neuanfang: Endlich ist die Zeit da, sich mit Themen zu beschäftigen, die einen schon immer interessiert haben. Susanne Roßbach hat Seniorstudierende an der Universität Bamberg getroffen.
"Solange man neugierig ist, kann einem das Alter nichts anhaben."
Burt Lancaster, US-amerikanischer Filmschauspieler (1913-1994)
An einem frühen Montagnachmittag füllt sich ein großer Seminarraum im Bamberger Hochzeitshaus. Wolfgang Brassat, Professor für Kunstgeschichte, wird gleich seine Vorlesung über die Kunst in der Romantik halten. Von den rund 80 Studierenden sind an die 20 Seniorinnen und Senioren; darunter auch Robert Willecke und Helmut Luther aus Coburg. Ein dritter Freund ist erkrankt und fehlt. Aber in der Regel fahren sie in der Vorlesungszeit zu dritt zum Studieren nach Bamberg. Im Berufsleben waren sie Zahnarzt und Apotheker.
"Ein halbes Jahr, nachdem ich aufgehört hatte mit dem Apothekerberuf, hab ich angefangen zu studieren", erzählt Luther. "Ich hab meine zwei Freunde dazu animiert, die da auch sehr aufgeschlossen waren." Als Fahrgemeinschaft suchen sie sich einen Tag heraus, an dem sie drei bis vier Vorlesungen mitmachen: mal Geschichte, mal Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften ... "wir haben aber auch schon Soziologie gemacht", sagt Luther. Und sei Freund Robert Willecke ergänzt: "Das macht einfach Spaß, den Professoren zuzuhören."
Im Wintersemester waren die Fächer Philosophie, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Psychologie bei den älteren Studierenden an der Uni Bamberg besonders gefragt. Auch die Kunstgeschichte zählt zu den beliebten Fächern der Gäste. "Das sind in diesem Semester in etwa 100 Studierende, wobei die Zahlen in den letzten Jahren relativ stabil geblieben sind", erklärt Frithjof Grell, Vizepräsident der Universität Bamberg. "Es handelt sich mehr oder weniger um ein Prozent der Studierenden. Dieses Angebot entspricht auch dem Selbstverständnis einer modernen Universität, nicht nur die eigentlichen Kernaufgaben wahrzunehmen. Es ist doch auch eine Öffnung der Hochschulen in die Gesellschaft hinein."
Umzug für Islamwissenschaften
Wer an einer bayerischen Hochschule als Gasthörer studieren will, muss das Abitur haben oder die Mittlere Reife. Je nachdem, an wie vielen Veranstaltungen ein Studierender teilnehmen möchte, beträgt die Studiengebühr zwischen 100 und 300 Euro. Zu den Gasthörern zählen auch Studierende, die noch im Berufsleben stehen und sich dafür weiter qualifizieren wollen. Jeder Gasthörer muss sich in der Studierendenkanzlei einschreiben.
"Die Gaststudierenden sind meist ältere Herrschaften, die einfach noch gerne in der Wissenschaft sein wollen, sich bestimmte Vorlesungen anhören wollen, ohne Stress sich Wissen aneignen wollen und Interesse an der Universität haben", erklärt Maria Steger, die Leiterin der Kanzlei. "Ein älterer Herr ist extra hierher gezogen, um hier ein Studium der Islamwissenschaften zu machen." Meist, so sagt Frau Steger, gehen die Senior-Studierenden in eine ganz andere Richtung als das, was sie im Berufsleben gemacht haben.
Einige Seniorinnen und Senioren sind als aber auch ganz regulär eingeschrieben und streben einen Abschluss an, legen also auch alle erforderlichen Prüfungen ab. Manche promovieren sogar noch. Das tun sie nicht nur zum Selbstzweck, sagt Uni-Vizepräsident Frithjof Grell, der auch schon Doktorvater für eine 75-Jährige war.
Pionierarbeit ist keine Frage des Alters
"Gerade die wissenschaftlichen Arbeiten von älteren Menschen werden häufig von Fragen motiviert, die mit der eigenen Lebensbiografie zu tun haben, über die ein jüngerer Mensch nicht verfügt. Sie können einen außerordentlichen Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft darstellen." Er berichtet von einer Dame im fortgeschrittenen Alter, die bemerkt hatte, dass sie Selbstgespräche führt. Als Seniorstudentin hat sie sich mit diesem Thema wissenschaftlich befasst, eine Promotion darüber geschrieben und damit Pionierarbeit geleistet zum Thema "Selbstgespräche als eine wichtige Ressource im Alter". "Das Ergebnis der Arbeit war", so Grell, "dass ältere Menschen, die Selbstgespräche führen und das auch aktiv pflegen, ihre geistige Beweglichkeit länger erhalten als Personen, die das nicht tun."
"Alt sein ist eine herrliche Sache, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt."
Martin Buber, österreichisch-israelischer Religionsphilosoph (1878-1965)
Für die Angebote für Gaststudierende, Seniorinnen und Senioren gibt es an vielen Universitäten ein extra Vorlesungsverzeichnis. Im vergangenen Wintersemester gab es alleine an der Uni Bamberg mehr als 200 Veranstaltungen. Darüber hinaus können Gäste nach Absprache mit den Lehrenden auch an vielen anderen Veranstaltungen teilnehmen.
Wolfgang Brassat leitet den Lehrstuhl für neuere und neueste Kunstgeschichte an der Uni Bamberg. In seinen Veranstaltungen sind regelmäßig Seniorstudierende zu Gast. "Ich fand's schon immer schön, wenn diese studentische Monokultur ein bisschen aufgebrochen war", so Brassat. "Es gibt schon diesen Besserwisser, diesen Studienrat, der das Trauma aller Reiseführer ist", berichtet er schmunzelnd von den ganz unterschiedlichen Typen von Vorlesungsgästen. "Der überwiegende Teil sind aber Leute, die das wirklich aus Interesse machen und auch ganz entspannt." Manchmal nehmen die Gäste auch an Exkursionen teil, wobei schon Freundschaften entstanden sind unter den Teilnehmern, sagt der Professor.
Die Seniorstudenten Robert Willecke und Helmut Luther aus Coburg haben die Erfahrung gemacht, dass sie mit den jungen Studierenden eigentlich nur in Seminaren richtig in Kontakt kommen, weil dort gemeinsam gearbeitet wird. Herr Willecke erinnert ich an ein Seminar in russischer Landeskunde: "Da wurden Gruppen gebildet, in denen man Pro- und Contra-Meinungen formulieren sollte. Da ist man mit den jungen Menschen sehr interessant, auch sehr konfliktreich, in Gespräch gekommen, was aber beide Seiten glaub ich genossen haben. Das war sehr angenehm."
"Eine Win-Win-Situation zwischen beiden"
Für ein Seminar müssen auch Gaststudierende in der Regel ein Referat halten, was eine umfangreiche Vorbereitung erfordert. Deshalb besuchen die Coburger Freunde mittlerweile lieber Vorlesungen. "Wir machen das zum Vergnügen und müssen da nicht die großen Vorarbeiten machen", sagt Herr Luther. Der Abschluss eines Studientages sei stets kulinarisch: "Im Sommer sind wir dann häufig hier auf den Bierkellern, das ist dann eine runde Sache. Wir sind von früh bis abends unterwegs."
Und Herr Willecke ergänzt: "Während wir studieren, freuen sich unsere Frauen über den freien Tag, weil sie da all diese Dinge erledigen können, wo wir eher stören würden. Insofern ist das eine Win-Win-Situation zwischen beiden."
Knapp 18 Millionen Deutsche sind 65 Jahre und älter, und die Lebenserwartung steigt. Jedes zweite Mädchen, das nach der Jahrtausendwende geboren wurde, wird über 100 Jahre alt werden. Die Gruppe der "jungen Alten" zwischen 60 und 80 erleben die Zeit nach dem Beruf oft bei relativ guter Gesundheit und fühlen sich in der Regel jünger, als sie es an Jahren sind.
Physiologisch sind sie es tatsächlich, sagt der Psychologe Andreas Kruse. Er ist der Leiter des Institutes für Gerontologie an der Universität Heidelberg. Kruse weist darauf hin, dass Menschen heute physiologisch zehn Jahre jünger sind als vergleichbare Menschen vor 20, 30 Jahren.
"Ich halte es für sehr bedeutsam, dass man sich schon vergleichsweise früh im Lebenslauf der Tatsache bewusst wird, dass wir in einer Gesellschaft des langen Lebens leben. Und das bedeutet für den Einzelnen, dass er nicht nur plant bis 50 oder bis 65 und dann sagt: Alles, was danach kommt, wird sich schon finden. Sondern, dass er oder sie sich mit der Frage auseinander setzt: Wie willst du die Zeit nach dem Beruf gestalten, leben, ausfüllen, die wir gemeinhin 'Alter' nennen. Man muss im Grunde genommen schon im Schulunterricht in irgendeiner Form das Thema Alter beziehungsweise Entwicklung über den gesamten Lebenslauf zum Inhalt machen, um Menschen schon früh dafür sensibilisieren, dass die Art und Weise, wie wir unser Alter leben, in hohem Maße davon beeinflusst ist, wie wir die Lebensabschnitte vor dem Alter gestaltet beziehungsweise gelebt haben.
"Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig."
Albert Einstein (1879-1955)
Die Lust auf Neues ist den Seniorstudierenden gemeinsam. Für sie sind ihre Studien eine Bereicherung und wirken auch in ihren Alltag hinein. So freut sich Robert Willecke, dass er bei Diskussionen unter Freunden mit Informationen aufwarten konnte, die "über das Zeitungs- oder Fernsehwissen" hinaus geht, wie er es formuliert. "Es ist tatsächlich so, dass man den Eindruck hat, dass man interessierter ist an vielen Dingen, weil dieses Interesse wieder geweckt worden ist durch das Studium." "Man bekommt neue Sichtweisen mit, von daher gesehen ist es eine intellektuelle Anregung", ist sich sein Studienkollege Luther sicher.
Ihr Umfeld reagiert unterschiedlich auf die "alten" Studierenden. Die drei Herren aus Coburg haben das Gefühl, so mancher sei gar etwas neidisch, wenn sie von ihrem Studium erzählen. Claudia Lenhard ist ehemalige Grundschullehrerin. Gleich nachdem sie in den Ruhestand verabschiedet wurde, hat sie angefangen, die Grundlagen der Kunstgeschichte zu studieren. Ihre Bekannten und auch ehemalige Kolleginnen und Kollegen reagieren durchweg positiv: "Die haben mich auch schon mal angesprochen, wie das ist, wenn sie das selber machen würden und ich hab sie dazu ermutigt. Ich denke, einige aus meinem Bekanntenkreis werden das in Zukunft mal unternehmen."
"Die finden es einfach cool"
Ursula Obst-Kestel studiert in Teilzeit Archäologie. Sie stößt damit oft auf Unverständnis. "In meinem Alter würde ich das nicht mehr tun", bekam sie schon zu hören. Oder "da muss man sich mit so schwierigen Sachen nicht mehr befassen." "Es gibt Menschen, die sich einfach Altersgrenzen für sich selber setzen", versucht Frau Obst-Kestel solche Bemerkungen zu erklären. "Bei mir Zuhause, das ist ein Mehrfamilienhaus, wohnen viele Studenten, mit denen ich eine sehr gute Hausgemeinschaft hab, und die finden das einfach cool."
Sie hat auch im Studium guten Kontakt zu jungen Studierenden bekommen. Sie besucht Feiern "ihres" Fachbereiches, wie das Sommerfest, geht zu Gastvorträgen und fährt mit auf Exkursionen. Besonderen Spaß gemacht hat ihr die Vorbereitung einer Ausstellung. "Akzeptiert fühle ich mich da, wo man gemeinsam etwas miteinander gemacht hat. Und das trägt dann auch weiter, dass man sich gut kennenlernt und es dann auch egal ist, wie alt man ist." Eigentlich sei die Uni eine Einrichtung für junge Menschen zur Ausbildung und so soll es auch bleiben, "ich versteh dann auch, wenn manche ein bisschen Abstand halten möchten", lacht Frau Obst-Kestel. "Aber es ist wirklich so, dass zu einigen ein sehr, sehr guter Kontakt entstanden ist."
"Es zählt nicht wie alt du bist, sondern wie du alt bist."
chinesisches Sprichwort
Von Bamberg nach München. Dort lernen rund 2.000 ältere Studierende an einem eigenen Zentrum Seniorenstudium. Das Durchschnittsalter beträgt 72 Jahre, der Älteste ist 96. Fast 85 Prozent haben bereits ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Es sind etwas mehr Männer als Frauen eingeschrieben.
Seit dem Jahr 2000 ist das Zentrum Seniorenstudium eine interfakultäre Einrichtung der Ludwig-Maximilians-Universität, das heißt es werden Veranstaltungen aus allen Forschungsbereichen angeboten und die Infrastruktur der Universität genutzt. Die Einrichtung geht auf das Engagement des Theologen Eugen Biser zurück, der es der damaligen Kriegsgeneration ermöglichen wollte, sich wissenschaftlich fortzubilden. 2001 schrieb Biser über Sinn und Ziel des Seniorenstudiums:
"Das Seniorenstudium verfolgt bewusst die Absicht, die rezeptiven und kreativen Fähigkeiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu fördern, ihre geistige Auffassungs- und Urteilskraft zu aktivieren und dadurch die Erreichung der Leistungsgrenze zu verzögern. (…) Gleichzeitig sucht das Seniorenstudium aber auch einen Beitrag zur Festigung und Vertiefung der Sozialkontakte seiner Teilnehmer zu leisten. Denn viele leiden unter einer wachsenden Vereinsamung, nachdem die Kinder weggezogen und Verwandte und Freunde weggestorben sind." Eugen Biser
Das Studium befriedigt den Wissensdurst der Seniorstudierenden. Es gibt ihrem Alltag Struktur und es steigert auch die Lebensfreude, sagt die Direktorin des Zentrums, Elisabeth Weiß. Sie ist Professorin für molekulare Humangenetik an der Uni München, selber bereits seit einigen Jahren im Ruhestand, und leitet das Zentrum ehrenamtlich. Das Studium hält die Menschen aktiv in der Gesellschaft, sagt sie: schon alleine dadurch, dass sie kommen müssen. "Sie müssen sich aktivieren, sie müssen hingehen, überlegen, welche Vorlesungen lege ich zusammen? Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass eine Vorlesung kurzfristig abgesagt wird, weil die Struktur des Tages dann nicht mehr funktioniert."
Neue Hirnzellen? Möglich!
Alle Veranstaltungen sind auch für junge Studierende offen, um den Dialog zwischen den Generationen zu fördern. Mitunter bieten die Jungen auch selbst Seminare für die Senioren an. So hielten junge Studierende der Kunstpädagogik im vergangenen Wintersemester ein Seminar über die Lüpertz-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst ab.
"Rückfragen zeigen auch, dass es für regulär Studierende interessant ist, die Meinung von älteren Personen zu hören und auch von deren Lebenserfahrung. Wenn sie gemeinsam an der Veranstaltung teilnehmen, können sie voneinander lernen. Wir bieten speziell intergenerative Lehrveranstaltungen an und das Interesse nimmt stark zu, gerade bei den Personen, die sich relativ neu in das Seniorenstudium eingeschrieben haben", sagt Elisabeth Weiß.
Ihr zufolge gibt es einen großen Unterschied zu anderen Weiterbildungseinrichtungen wie der Volkshochschule: An der Uni können sich neugierige Senioren wissenschaftlich weiterbilden. "Sie kriegen Wissenschaft aus erster Hand vermittelt, auch die Fortschritte, die Schwierigkeiten." Durch die Wissensvermittlung seien die Seniorenstudierenden auch für die Ausübung verschiedener Ehrenämter besser gerüstet, so Weiß: "Sie lernen ja auch methodisch etwas und können das auch direkt in die Praxis umsetzen."
Damit fungieren die Studierenden auch als Multiplikatoren für die wissenschaftlichen Inhalte. Und nicht zuletzt: Geistige Aktivität scheint den Alterungsprozess im Gehirn zu verzögern. Die Hirnforschung geht neuerdings davon aus, dass es durchaus möglich ist, dass sich auch im Alter noch neue Hirnzellen bilden.
Das nächste Sommersemester an den bayerischen Universitäten beginnt übrigens am 20. April.
"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn."
Rainer Maria Rilke