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Der Osten - mehr als ein Klischee?

RESPEKT Der Osten - mehr als ein Klischee?

Stand: 17.12.2019

  • Das Gefühl der Benachteiligung vieler Menschen im Osten Deutschlands hängt eng mit den Erfahrungen vor und v. a. nach der Wende zusammen.
  • Im Zuge der Aktivitäten der Treuhand nach der Wende verloren mehr als 2,5 Millionen Menschen ihren Job.
  • Löhne und Renten sind auch heute oft noch unterschiedlich in Ost und West.
  • Die politische Unzufriedenheit ist laut einer Studie in Ostdeutschland besonders hoch.

Jammern die Menschen im Osten Deutschlands mehr? Sind die Menschen im Westen arroganter? Über Ost- und Westdeutsche gibt es jede Menge Klischees. Jenseits der Klischees hat RESPEKT-Moderator Sebastian Leidecker Menschen in Ostdeutschland getroffen und mit ihnen über ihre Erfahrungen gesprochen.

Demokratieverdrossenheit im Osten?

Bei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2019 bekam die rechtspopulistische AfD zwischen 23 und 28 Prozent der Stimmen. Die AfD dort lehnt wesentliche Bestandteile des Grundgesetzes ab, macht Stimmung gegen Minderheiten oder ein modernes Familienbild. Warum feiert die AfD gerade im Osten Deutschlands so große Erfolge?

Eine repräsentative Umfrage vom September 2019 könnte dazu Hinweise geben. Sie zeigt, wie zufrieden oder unzufrieden die Menschen im Osten 30 Jahre nach dem Mauerfall sind:

Zahlen und Fakten: Quellen

Studie von "policymatters" im Auftrag der Wochenzeitung DIE ZEIT 2019:
policy-matters.de
und
DIE ZEIT, Nr. 41, 02.10.2019

Weitere Studien, u. a.:
WZB (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung)
Institut für Demoskopie Allensbach/FAZ
Thüringen-Monitor

Wahlergebnisse Landtagswahlen 2019
Brandenburg (tagesschau.de)
Sachsen (tagesschau.de)
Thüringen (tagesschau.de)

Natürlich bedeuten die Wahlergebnisse auch, dass die Mehrheit im Osten nicht die AfD wählt. Es gibt in Ostdeutschland Initiativen wie das Alternative Jugendzentrum in Leisnig in Sachsen, das sich aktiv für Jugendliche engagiert, ihnen Alternativen und Perspektiven bietet, damit sie nicht in die rechte Szene abrutschen. Es gibt Workshops gegen Antisemitismus, Argumentationstrainings gegen Nazis, eine Skaterampe, Graffiti-Workshops, Bands.

"Das Klischee 'in Sachsen sind nur Nazis' sehe ich als Beleidigung an, gegen alle Sozialarbeiter, gegen alle ehrenamtlichen, aktiven Menschen, die hier arbeiten, hier bewusst in ländlichen Provinzen, ziehen mit Absicht nicht in die Großstädte, um den Neonazis in den ländlichen Strukturen überhaupt nicht das Feld zu überlassen."

Robin, Alternatives Jugendzentrum Leisnig

Früher war alles besser?

Laut oben genannter Studie finden 41 Prozent der Ostdeutschen, man könne seine Meinung heute nicht freier oder nur weniger frei äußern als vor 1989. Und eine Mehrheit von 58 Prozent der Ostdeutschen hat das Gefühl, heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt zu sein als in der DDR. Wie lassen sich diese Zahlen erklären?

In vielen Fällen spielt vermutlich die Nachwendezeit eine große Rolle. Für viele Ostdeutsche bedeutete die Zeit der DDR bei allen Nachteilen durchaus ein beschütztes, geregeltes Leben. Umso verunsichernder war der Umbruch nach der Wende, als unzählige Betriebe geschlossen wurden und mehr als 2,5 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Die Menschen im Osten hatten nicht das Gefühl, aktiv etwas mitbestimmen zu können. Die Arbeit der Treuhand fühlte sich häufig willkürlich an.

"Gerade meine Generation, die hatten einen ordentlichen Beruf, die hatten ein ordentliches Einkommen schon. Du hattest dieses Sorglos-Programm vor der Wende, die 40 Jahre DDR. Und dann der Umbruch. Und dann musstest du dich einfach selber kümmern um alles. Das war nicht einfach. Davon haben sich viele nicht wieder richtig erholt."

Ingo Otto, Kapitän

Gleichheit zwischen Ost und West?

Was zum Beispiel das Angebot von Waren und Dienstleistungen, Infrastruktur, Gesundheitsvorsorge oder Tarifverträge angeht, sind die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland inzwischen weitgehend angeglichen. Wo es aber keine Tarifverträge gibt, sind die Löhne im Osten Deutschlands zum Teil noch deutlich niedriger als im Westen. Außerdem befinden sich große Unternehmen und Konzernzentralen mit hohen Einkommen überwiegend im Westen. Bis heute gibt es kein ostdeutsches Unternehmen im DAX.

"Die Renten sind schon sehr unterschiedlich in Ost und West. Das liegt insbesondere daran, dass es in den 90er-Jahren in den neuen Bundesländern sehr hohe Arbeitslosigkeit gegeben hat und auch die Löhne sehr unterschiedlich sind in Ost und West, nach wie vor. [...] Des Weiteren gibt es in den alten Bundesländern entsprechend eine sehr gute betriebliche Altersversorgung, nicht in jedem Betrieb, aber doch in vielen. Das ist in den neuen Bundesländern nach wie vor die Ausnahme."

Enrico Zemke, Gewerkschaftssekretär, ver.di

Die Entwicklungen in der Nachwendezeit haben viel dazu beigetragen, dass sich die Menschen im Osten benachteiligt und abgehängt fühlen. Dass 30 Jahre nach dem Mauerfall nach wie vor geringere Löhne und Renten nicht unüblich sind, ist mit Sicherheit eine der Ursachen, warum sich Menschen in Ostdeutschland vermehrt der AfD zuwenden.

Autorin: Claudia Sarrazin

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