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Wissenschaftliche Analysen in einem Naturwaldreservat Klimawandel im Wettersteinwald

Seit 1850 ist es im Durchschnitt zwei Grad wärmer geworden in den Bayerischen Alpen. Besonders gut und drastisch sehen wir es an den Gletschern, aber was genau bedeutet das für die Vegetation? 1986 haben Forstwissenschaftler im Wetterstein zum ersten Mal alle Pflanzen kartiert - und jetzt sind sie wieder an die gleichen Stellen gestiegen, um nachzuschauen, was sich getan hat.

Von: Georg Bayerle

Stand: 16.07.2022

Wissenschaftliche Analysen in einem Naturwaldreservat | Bild: BR; Georg Bayerle

Kein Weg führt in diesen bayerischen Urwald, den submontanen Fichtenwald, wie er in der Vegetationsgeographie heißt: Zwischen 1400 und 1700 Metern bilden Fichten mit mehr als drei Metern Stammumfang ein grünes Dach unter dem wir über gestürzte, knorrige Stämme hinweg aufsteigen. Der Forstwissenschaftler Hans-Gerd Michiels hat hier 1986 erstmals eine komplette Erhebung aller Pflanzen durchgeführt. Es ist spannend für ihn, wieder hierher zu kommen: „Das war mein erster Wald, den ich in den Kalkalpen bearbeitet habe damals, und das ist ein eindrucksvolles Naturerlebnis gewesen.“ Er glaubt, dass sich der Wald wandelt: „Ich erwarte, dass der Wald sich verändert hat in den letzten 36 Jahren. Es kommen neue Bäume von unten nach, vielleicht auch neue Pflanzen. Aber das müssen wir erst einmal systematisch untersuchen und nachweisen.“

Baumszenerie

Seit 50 Jahren hat der Mensch in diesem Naturwaldreservat nichts mehr verändert. Aber der Klimawandel bewirkt, dass sich die Höhengrenzen der Baumarten verschieben. Die alten Unterlagen aus dem Jahr 1986 dienen jetzt als Vergleich. Es dauert nicht lang, da reckt eine Buche, knapp einen halben Meter hoch, ihre Zweige ins Licht. Hans-Gerd Michiels überprüft seine Aufzeichnungen: „Damals auf 1390, jetzt auf 1480 Meter, fast 100 Höhenmeter weiter oben, das heißt, die Buche findet hier jetzt Lebensbedingungen vor, wo sie auch in dieser Höhenlage noch wachsen kann.“ Die Buche ist ein erstes Indiz. Aber die Vegetationsforschung läuft nach genauen Vorgaben ab. Thomas Kudernatsch ist der Scout: „Wir werden jetzt gezielt einen Punkt ansteuern, den wir vor 36 Jahren angelegt haben. Da haben sie das gesamte Reservat mit einem Raster überlegt, mit einem hundert mal hundert Meter Raster.“ Es geht buchstäblich über Stock und Stein und umgestürzte Bäume: „Ich schnauf auch a bisserl, das ist anstrengend. Die Forschung in den Bergen ist sehr genussreich wegen der Landschaft und des faszinierenden Ökosystems, aber auch anstrengend.“

Jede Pflanze wird verzeichnet

Am Punkt angekommen, stecken die Forstwissenschaftler einen Acht-Meter-Radius ab und rufen dem Protokollführer alle Pflanzen, die sie aufstöbern, mit ihren lateinischen Namen zu. Das Ergebnis ist beeindruckend: Fast 100 Pflanzenarten wachsen in dem kleinen Messfeld, ein Drittel mehr als 1986. Könnte es an den wärmeren Temperaturen liegen? Außer der Buche, die auch in diesem Versuchsfeld auf 1560 Meter, also 200 Höhenmeter über ihrer damaligen Verbreitung vorkommt, gibt es auf den ersten Blick aber keine besonderen Auffälligkeiten. Jörg Ewald, der die Forschungen an der Hochschule Weihenstephan leitet, braucht dafür weitere Untersuchungen

Die Artenliste umfasst 90 Namen

Zwei Tage lang setzen die Wissenschaftler ihre Bergurwald-Expedition fort. Am Ende befinden sie sich in der obersten Stufe, dem Zirbenwald. Hier stößt der Waldsaum an die nackten Felsen der Wettersteinwand. Der Zirbe könnte die Luft ausgehen, fürchtet Jörg Ewald: „Es ist absehbar, dass die Zirbe von unten immer mehr Konkurrenz bekommt, und dass der Zirbe zwischen Almwirtschaft und dem heraufdrängenden Bergwald von unten mit Fichte, Tanne, Buche, Bergahorn und Vogelbeere hier das Leben immer schwerer gemacht wird.“ Auch hier oben hat sich die Zahl der Arten insgesamt erhöht. Vor allem aber zeigt sich, dass das Ökosystem Bergwald - anders als die Gletscherzone - viel langsamer auf den Klimawandel reagiert. Dank der vielfältigen Arten-Zusammensetzung scheint es sehr widerstandsfähig zu sein.

Und noch etwas wird deutlich: Mit der Erhöhung der Durchschnittstemperatur in den Bayerischen Alpen um zwei Grad seit 1850 ist die Baumgrenze deutlich angestiegen. Wo im Estergebirge heute Wiesen und Latschen wachsen, könnte Wald entstehen, erklärt der Bergwaldexperte Jörg Ewald: „Beim Estergebirge ist es absehbar, dass das, was heute mit Latschen bedeckt ist, sich mit einem lichten Wald bedecken könnte. Das ist absolut realistisch, das ist 2100 Meter hoch und das wird, denk ich, passieren. Das liegt im Grunde heute schon im Bereich der potentiellen Waldgrenze.“

Der Zirbenwald

Auch Wanderer können beitragen zu den Forschungen über die Baumgrenzen im Gebirge: Die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf betreibt ein Bürger-Forschungsportal, wo alle, die Interesse haben, ihre Beobachtungen auf Wanderungen im Gebirge dokumentieren können, und zwar im Internet unter www.portal.baysics.de


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