Die Hoerlin-Briefe Nanga Parbat & Nationalsozialismus
Der Mount Everest wurde zum Berg der Briten, der K2 zum Gipfel der Italiener und der Nanga Parbat zum „Schicksalsberg der Deutschen“, spätestens seit der Willy-Merkl-Expedition von 1934. Geplant war die erste Besteigung eines Achttausenders überhaupt. Es sollte ein Triumph deutscher Bergsteiger werden. Doch aus dem Triumph wurde eine Tragödie mit zehn Toten. Kaum eine andere Expedition wurde im Nachhinein so vom nationalsozialistischen Regime vereinnahmt wie dieses Unterfangen.
Bis heute hält sich das Bild von der Nanga-Parbat-Expedition im Zeichen des Hakenkreuzes. Jetzt gibt es neue Erkenntnisse und das braune Bild muss zumindest teilweise revidiert werden: aufgrund der so genannten Hoerlin-Briefe.
Bettina Hoerlin, Professorin für Politikwissenschaft aus Philadelphia, stieß vor einigen Jahren in einem Koffer auf dem Dachboden zufällig auf diesen Nachlass ihrer Eltern: rund 500 Briefe zwischen Käthe Tietze-Schmid und Hermann Hoerlin aus den Jahren 1934 bis 1938. Über den Briefwechsel ihrer damals noch unverheirateten Eltern hat Bettina Hoerlin ein Buch geschrieben und kürzlich im Alpinen Museum in München vorgestellt: „Steps of courage – my parents journey from Nazi Germany to America.“
Hermann Hoerlin aus Schwäbisch Hall war einer der besten Höhenbergsteiger seiner Zeit. 1930 hatte er auf Einladung von Günter Oskar Dyhrenfurth an der – leider erfolglosen - Expedition zum Kangchendzönga teilgenommen und am Ende der Expedition zusammen mit dem Österreicher Erwin Schneider ohne Flaschensauerstoff den 7462 Meter hohen Jongsong Peak bestiegen hatte – damals der weltweite Höhenrekord. Hoerlin wurde daraufhin auch zur Nanga-Parbat-Expedition unter Leitung von Willy Merkl eingeladen, lehnte jedoch ab, da kurz zuvor sein Vater verstorben war. Allerdings bot Hoerlin der Merkl-Expedition seine Hilfe in puncto Pressearbeit an und kam von Stuttgart nach München. Hier lernte er die Sekretärin der Expedition kennen und lieben: Käthe Tietze-Schmid, eine Halbjüdin. Käthe Tietze-Schmid hatte zu dieser Zeit ein schweren Schicksalsschlag zu verkraften. Ihr Mann Wolfgang Schmid, Cellist und Musikkritiker der Münchner Neuesten Nachrichten, war im Zuge des Röhm-Putsches verhaftet, nach Dachau gebracht und dort erschossen worden – versehentlich, aufgrund einer Namensverwechslung, wie sich danach herausstellte.
Als Expeditionssekretärin hielt Käthe Tietze-Schmid von München aus den Kontakt zur Expedition vor Ort, wertete Nachrichten und Briefe aus und leitete das Material an Hermann Hoerlin zur Publikation weiter. Hoerlin war bis 1938 im Verwaltungsausschuss des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins tätig und für die Pressearbeit mitverantwortlich. Am Yongsong Peak hatten Schneider und er damals die Flaggen ihrer jeweiligen Heimat, Schwaben und Tirol, gehisst – und genau das brachte sie in Konflikt mit nationalsozialistisch eingestellten Bergsteigern wie Paul Bauer, Leiter des deutschen Bergführerverbandes und Teilnehmer an der Merkl-Expedition.
Wie die Hoerlin-Briefe zeigen, waren Paul Bauer und Franz Bechtold die einzigen echten Nazis in dieser Mannschaft, sagt der Alpinhistoriker Nicholas Mailänder. Für Paul Bauer war das Bergsteigen eine nationale Kollektivleistung, ein Dienst an Volk und Vaterland. Individualistisch geprägte Bergsteiger wie Hermann Hoerlin und Erwin Schneider waren ihm ein Dorn im Auge. Bauer versuchte deshalb Hoerlin und Schneider zu denunzieren und sie aus dem Himalaya-Expeditionswesen zu eliminieren, zum Beispiel auch in Briefen an den berüchtigten Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten. Paul Bauer wollte Hoerlin auch wegen der Liaison mit der Halbjüdin Käthe Tietze-Schmid denunzieren. Hoerlin aber gelang es seine große Liebe 1938 zu heiraten, auch weil ein Adjutant Hitlers, Fritz Wiedemann, seit der Ermordung von Käthe Tietze-Schmids ersten Mann schützend die Hand über sie hielt.
Als Ehepaar wanderten die Hoerlins nun umgehend nach New York aus. Hermann Hoerlin war in den USA in seinem erlernten Beruf als Physiker tätig, unter anderem im Los-Alamos-Projekt, und hatte beste Beziehungen zur Präsidentengattin Eleonore Roosevelt. Nazi-Deutschland ließen die Hoerlins hinter sich. Mit ihrer in den USA geborenen Tochter Bettina sprachen sie nie über diese dunkle Zeit - bis dann Bettina Hoerlin in einem verschlossenen Koffer auf dem Dachboden die Briefe ihrer Eltern entdeckte.
Unter diesen Briefen fanden sich auch viele Schreiben zwischen der damaligen Expeditionssekretärin Käthe Tietze-Schmid und Willy Merkl. Käthes Verhältnis zu Merkl war wie zu einem Bruder. Aus den Briefen geht allerdings klar hervor, dass auch logistische Fehlplanungen Merkls zum tragischen Scheitern der Nanga-Parbat-Expedition beitrugen. Wurde diese Expedition bislang immer als Unternehmung linientreuer Nazis gesehen, so zeigen diese neuen Dokumente deutlich, so Nicholas Mailänder, dass das Gros der Teilnehmer aus Bergsteigern bestand, die dem Regime gegenüber sehr kritisch eingestellt, wenn auch keine Anti-Faschisten waren. Man erfährt zum Beispiel auch, dass Willo Welzenbach, dem posthum der Stempel eines lupenreinen Nationalsozialisten aufgedrückt wurde, ein Anhänger der Bayerischen Volkspartei und mit seiner Weltanschauung fest im christlichen Glauben verwurzelt war. Aufgrund der Hoerlin-Briefe erscheint die Merkl-Expedition in einem anderen Licht. Viele Briefe von der Mannschaft direkt an Hermann Hoerlin verraten, was die Bergsteiger gedacht haben. Es ist sozusagen ein Psychogramm der Expeditionsteilnehmer, in dem sie sich durchaus als Regimekritiker äußern. Dennoch müssen sie sich vorwerfen lassen, dass sie mit der Nazi-Diktatur paktiert haben, um sich ihre persönlichen bergsteigerischen Ambitionen erfüllen zu können.
Die politischen Fakten sind das eine, das andere ist die Romanze zwischen Käthe Tietze-Schmid und Hermann Hoerlin im Spiegel des Faschismus. Beide sind sich treu geblieben und haben trotz massiver Schwierigkeiten ihre Auswanderung erreichen können. „Steps of courage“ – mutige Schritte. Nicht umsonst hat Bettina Hoerlin das Buch über ihre Eltern so genannt und bringt das ganze Geschehen mit einem Zitat aus einem Brief ihres Vaters Hermann Hoerlin auf den Punkt: „Vielleicht ist es zu viel verlangt beides zu haben – die Heimat und das Atmen!“
Das Buch von Bettina Hoerlin ist bisher nur in englischer Sprache erschienen: „Steps of courage – my parents journey from Nazi Germany to America“ kann online bei amazon bestellt werden. Mehr Informationen finden Sie auch unter bettinahoerlin.com