Tanzen als Therapie Tanzen: Neuer Rhythmus für das Leben
Niemand weiß, wann und wie genau das Tanzen entstanden ist. Sicher scheint aber zu sein: Tanzen als Ausdrucksmittel gab es schon vor der Sprache. Und das frühe Tanzen stand immer in Verbindung mit Ritualen. Rituale, die oft mit Selbsterfahrung und mit seelischer und körperlicher Heilung zu tun hatten. Daneben war Tanzen auch immer etwas, was in der Gruppe praktiziert wurde. Ein Mittel, um Gemeinschaft zu erzeugen, zu festigen und immer wieder zu erneuern. Tanzen wirkt also offenbar auf Körper, Geist und Seele. Deswegen beginnen Kliniken auch, das Tanzen in ihren Therapieplan mitaufzunehmen.
Sema Schäffer war drei Jahre alt, als sie an Kinderlähmung erkrankte. Damals lebte sie noch in der Türkei. Innerhalb von ein paar Wochen konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Aber Sema war trotzdem immer draußen, wurde von ihren Freunden getragen oder robbte über den Boden. Mit zehn Jahren kam sie nach Deutschland. Jetzt war sie ohne Freunde, in einer Wohnung, ziemlich immobil … und traurig. Erst als sie einen Rollstuhl bekam, lebte sie wieder auf und genoss die neue Bewegungsfreiheit.
Tanzen mit dem Rollstuhl
Als Jugendliche kam Sema Schäffer dann zufällig mit dem Rollstuhltanzen in Berührung. Ende der 1970er Jahre wurde das Rollstuhltanzen von Dr. Gertrude Krombholz erfunden, einer Sportpädagogin der Technischen Universität München. Sie war es auch, die den Rollstuhltanz immer weiterentwickelte und mit Lehrgängen, Büchern und nicht zuletzt Auftritten verbreitete. Die Tanzschritte von allen Standard- und Lateinamerikanischen Tänzen (zum Beispiel Walzer, Foxtrott, Boogie, Cha Cha Cha, Samba, Rumba) wurden von ihr für den Rollstuhl übersetzt.
Rollifahrer sollten zusammen mit Fußgänger-Partnern tanzen können. Ein Ansatz, um Menschen mit körperlicher Behinderung mehr in die Gesellschaft zu integrieren. Damals wurde die Rollstuhltanzsport Gruppe USC München an der Technischen Universität gegründet. Sema Schäffer war fast von Anfang an mit dabei. Heute besteht die Gruppe immer noch und neue Mitglieder sind immer willkommen!
Tanzen: Selbsterfahrung und persönliche Entwicklung
Schon bald gab es auch die ersten nationalen und internationalen Wettbewerbe im Rollstuhltanzen. Deutsche Meisterschaften, Europa- und Weltmeisterschaften. Auch Sema Schäffer stellte sich dem Wettbewerb und damit einer völlig neuen Öffentlichkeit. Zweimal gewann Sie mit ihrem Partner die Europameisterschaften und mehrere Deutsche Meisterschaften. Sie hatte zudem noch unzählige Showauftritte vor großem Publikum und Prominenten.
"Anfangs dachte ich: Oje, kannst du das? Werde ich überhaupt gesehen oder nur mein Fußgänger-Partner? Heute kann ich sagen: All diese Erfahrungen, die Reisen, die Bekanntschaften mit vielen interessanten Menschen, haben mich sehr gestärkt. Nicht nur im Bereich Tanzen sondern auch allgemein mit meinem Auftreten nach außen und wie ich mich seitdem in der Gesellschaft bewege."
Sema Schäffer, Rollstuhltänzerin
Tanzen: Inklusion und Sport
Natürlich ist Tanzen mit dem Rollstuhl auch echter Sport. Denn es ist gar nicht so einfach, den Rollstuhl genau im Takt zu dirigieren und zu manövrieren. Schließlich kommen dazu noch die Armbewegungen. Die Choreografien beim Formationstanz und Showauftritten erfordern regelmäßiges und gezieltes Training. Körperliche Fitness ist also garantiert durch das Rollstuhltanzen.
Das reicht Sema Schäffer aber noch nicht. Ab und zu besucht sie auch Clubs, um auf der Tanzfläche richtig abzuhotten. Und dabei ist es ihr auch wichtig, dass sie sich zeigt und die anderen sie wahrnehmen.
"Menschen wie ich, die im Rollstuhl sitzen, haben genauso Lust tanzen zu gehen. Das ist das Normalste der Welt. Außerdem wird niemand sagen: Komm Sema, wir integrieren dich jetzt! Ich muss das selbst machen, egal, wo ich bin. Ich bin da in der Offensive. Und das habe ich durch das Tanzen gelernt. Das war das Beste, was mir passieren konnte."
Sema Schäffer
Tanzen gegen Parkinson
Vor zehn Jahren bemerkt die Hamburgerin Ingrid Hauff seltsame Veränderungen an sich. Plötzlich kommt sie beim Zähneputzen aus dem Takt, danach merkt sie, dass sie Schwierigkeiten hat, gleichzeitig zu singen und zu tanzen, dann beginnt ihre rechte Hand zu zittern und schließlich auch das Bein. Das Ergebnis einer neurologischen Untersuchung schließlich ist eine bittere Diagnose: Parkinson.
"Mir ist da ziemlich die Klappe runtergefallen und ich dacht bei mir, das ist eine Krankheit, die ich wirklich nicht haben will. Ich war sehr verzweifelt und sehr verunsichert, was meine Zukunft betraf."
Ingrid Hauff
In einer Psychosomatischen Klinik kommt Ingrid Hauff mit der Tanztherapie in Berührung. Seitdem tanzt sie regelmäßig. Und zwar bei der Tanzpädagogin und Choreografin Lena Klein, die zusammen mit Soi Anifantis mehrere Tanzgruppen für Parkinson Patienten anbietet. Sogar ein Tanztheaterstück hat die Gruppe schon auf die Bühne gebracht.
Tanzen: Training für das Gehen
Die Neurologen, bei denen Ingrid Hauff in medizinischer und therapeutischer Obhut ist, unterstützen ihre Passion für das Tanzen.
Tatsächlich gibt es seit Anfang der 2000er Jahre immer mehr Studien, die auch die medizinische Wirkung von Tanzen auf Parkinson belegen. Bei vielen Patienten werden mit fortschreitender Krankheit die Schritte immer kleiner und unsicherer. Der Gleichgewichtssinn, macht nicht mehr so mit und die Patienten bewegen sich dadurch unsicherer. Das Tanzen steuert hier entgegen.
Tanzen an der Uniklinik
Aufgrund der Studien und ihrer positiven Ergebnisse findet das Tanzen auch Einzug in Kliniken. Im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf hat die Neurologin Monika Pötter-Nerger das Tanzen in den Therapieplan ihrer Parkinson Patienten aufgenommen. Regelmäßig tanzen hier Lena Klein und die Patienten, die gerade auf Station sind.
"Wir wissen, dass der Parkinson Patient mit einer eingeschränkten Mimik, mit Gleichgewichtsstörungen und Muskelsteifigkeit zu kämpfen hat. Symptome, die durch Medikamente vor allem auch im fortgeschrittenen Krankheitsstadium von Medikamenten gar nicht erreicht werden. Die flüssigen Bewegungen beim Tanzen können dem entgegenwirken. Und natürlich das Hauptsymptom, die Bewegungsarmut, die Verlangsamung der Bewegung, das Kleinerwerden der Bewegung, wird ebenfalls durch das Tanzen trainiert."
Dr. med. Monika Pötter-Nerger, Neurologin, Uniklinikum Hamburg Eppendorf
Tanzen gegen Freezing
Neben der guten Laune, die dabei verbreitet wird und der allgemeinen Beweglichkeit, die bei den Patienten trainiert werden soll, steht vor allem auch das Phänomen des sogenannten „Freezings“ therapeutisch im Vordergrund. Patienten fühlen sich oft wie am Boden festgeklebt. Sie sind unfähig in Bewegung zu kommen, weil ein initialer Antrieb fehlt.
Entweder er wird nicht mehr wahrgenommen oder gar nicht mehr erzeugt. Neuere Forschung deutet darauf hin, dass dabei die Nerven von motorischen und anderen Zentren im Gehirn synchron geschaltet sind und dadurch die Reizübertragung gehemmt ist. Das lähmt den inneren Stimulus, in Bewegung zu kommen. Auch hier kann Tanzen helfen.
"Eine Erklärung ist hier, dass Musik als externer Trigger wirkt. Wir wissen, dass solche Trigger Blockaden gut lösen können. Das zweite ist, dass man im Tiermodell bei Ratten herausgefunden hat, dass Musik tatsächlich auch Botenstoffe im Kopf freisetzt. Zum Beispiel Serotonin und Dopamin, die dann auf die subthalamische Area wirken. Die ist ebenfalls an der Bewegungssteuerung mit beteiligt. Und insofern könnte die Ausschüttung von Botenstoffen durch die Musik zusätzlich helfen, motorische Blockaden zu überwinden."
Dr. med. Monika Pötter-Nerger, Neurologin, Uniklinikum Hamburg Eppendorf
Auch Ingrid Hauff macht diese Erfahrungen.
"Ich kann mich durch den Rhythmus viel besser bewegen als ohne Musik. Ich habe auch Schwierigkeiten mit Überkreuz-Bewegungen und so weiter … Aber ich merke, dass es mir mit Tanzen und ein bisschen Üben einfach besser gelingt. Man kann es trainieren und man kann auch mit Parkinson lernen, sich besser zu bewegen."
Ingrid Hauff
Tatsächlich haben Studien auch gezeigt, dass die Effekte von intensivem Tanztraining bis zu 12 Monate anhalten können. Deswegen möchte Ingrid Hauff das Tanzen am liebsten noch intensivieren. Sie hofft dadurch, das Fortschreiten ihrer Erkrankung etwas verlangsamen zu können. Aber auch jenseits der physiologisch therapeutischen Wirkung: Das Tanzen hilft ihr auf jeden Fall mit ihrer Erkrankung besser umzugehen.
"Ich bin stärker geworden. Das Tanzen hat wirklich ein ganz großes Stück dazu beigetragen, dass ich mich den Herausforderungen dieser Krankheit stellen kann."
Ingrid Hauff
Tanztherapie: Hilfe für die Seele
Tanzen ist auch ein Hilfsmittel, um die Psyche ins Gleichgewicht zu bringen. Susanne Bender war die erste in Deutschland, die das erkannt hat. Sie studierte Tanztherapie in den USA, holte die Methode nach Deutschland und gründete einen Dachverband. Seitdem gibt es auch hierzulande zertifizierte Ausbildungen in Tanztherapie.
Mehr und mehr findet auch der psychologische Ansatz der Tanztherapie Einzug in die Kliniken, und zwar ebenfalls in die neurologischen Abteilungen. Menschen mit Schlaganfall oder anderen neurologischen Diagnosen finden sich plötzlich mit unglaublichen Lebensherausforderungen konfrontiert. Entsprechend viele Patienten leiden deshalb auch an Depressionen.
Tanzen kann jeder: Durch den Spaß an Musik und Bewegung sind auch neurologische Patienten hoch motiviert.
Viele Patienten mit neurologischen Diagnosen wollen am liebsten wieder ganz gesund werden. Doch das klappt in den seltensten Fällen. Ein Schicksal, das die meisten Patienten nur schwer akzeptieren wollen. Susanne Bender zeigt mit der Tanztherapie aber, was trotzdem noch möglich ist. Die Patienten können damit die Sicht auf ihr Schicksal und die Erkrankung verändern und ihr Leben wieder positiver gestalten. Und diese positive Stimmung spielt auch eine entscheidende Bedeutung für den Erfolg klassischer Reha Therapien.
Mit Bewegung gegen Burnout und Depression
Auch Menschen wie Undine Uhlig können von der Tanztherapie profitieren. 16 Jahre lang ist sie Führungskraft in einem Unternehmen. Motiviert und mit viel Energie bewältigt sie den täglichen Stress. Sie will immer perfekt funktionieren und perfekte Arbeit liefern. Dann geht plötzlich nichts mehr.
"Ich selber hab immer zu mir gesagt, ich bin psychisch und physisch komplett erschöpft … und knapp am Burnout vorbeigeschrammt. Vor allem deswegen, weil ich nie ‚Nein‘ sagen konnte. Ich habe alle Aufträge und Wünsche von Chefs und Kollegen angenommen, ohne dabei auf mich selbst und meine Gesundheit zu achten."
Undine Uhlig
Auch sie lernt in der Klinik die Tanztherapie kennen. Sie war schon immer fasziniert davon, dass man mit Tanzen so viel ausdrücken, sichtbar und erfahrbar machen kann. In der Reha merkt sie, dass genau das einen großen therapeutischen Effekt bei ihr hat.
"Bei der Depression sind alle Gefühle, wie mit einem grauen Tuch zugedeckt und man spürt nichts mehr. Das Tanzen zieht dieses Tuch weg und man kommt plötzlich wieder an seine Gefühle ran!"
Undine Uhlig
Tanzen befreit: Der Körper speichert alle Erlebnisse
Tanztherapeutin Susanne Bender: Im Tanzen werden Probleme und Lösungen ganz unmittelbar spür- und erlebbar.
Tatsächlich geht die Tanztherapie davon aus, dass alle Erlebnisse, jede Prägung durch Umwelt und Familie und jedes Trauma im Körper gespeichert sind. Mit dem freien Tanz bekommt man Zugang zu diesem „Speicher“ der Emotionen.
"Bei vielen körperorientierten Psychotherapien geht es nur um das Spüren im Inneren. Die Tanztherapie geht weiter. Wir wollen die Gefühle auch nach außen hin ausdrücken. Denn nur dann wissen auch andere Menschen, was mit mir los ist und können entsprechend darauf reagieren."
Susanne Bender, EZETTHERA
Verhalten und Gefühle verändern
Tanztherapeuten können auch in der Haltung und in den Bewegungen eines Menschen lesen. Denn wissenschaftliche Bewegungsanalysen haben bestätigt, dass das Erlebte und Emotionen darin codiert sind. Umgekehrt lassen sich über Bewegungen und über den Körper festgefahrene Verhaltensmuster und sogar Traumata aufbrechen und verändern.
Das Leben von Undine Uhlig hat sich durch die Tanztherapie verändert. Sie ist selbstbewusster geworden. Und nicht mehr nur die anderen und deren Bedürfnisse sind das Maß aller Dinge für sie. Und jetzt macht sie selbst eine Ausbildung zur Tanztherapeutin.