Vorangetrieben, verboten, verankert Die Geschichte der Gebärdensprache
Welche Sprache ist älter? Die gesprochene oder die Gebärdensprache? Und wie hat sich die Gebärdensprache überhaupt entwickelt? Um das herauszufinden, hat sich Georginia Schneid mit ihrem dänischen Kollegen Benjamin in einem Dresdner Museum umgesehen. Hier läuft eine Ausstellung zum Thema Sprache.
Die gesprochene Sprache ist nicht so alt wie die Gebärdensprache. Diese Erkenntnis bekommen die beiden Moderatoren schnell, während sie durch das Museum schlendern. Über 500 Jahre alt ist schon alleine das Fingeralphabet, das übrigens nicht von Gehörlosen, sondern von hörenden Mönchen erfunden wurde. Nur warum?
Helmut Vogel, Experte in Deaf History, kennt die Antwort: 1570 wurden erstmals in einem Kloster in Spanien gehörlose Kinder unterrichtet und die Mönche nahmen dabei das Fingeralphabet zur Hilfe. Wie lange es da allerdings schon bestanden hat, da gehen die Meinungen auseinander – manche Untersuchungen sprechen von 800 Jahren. Das Fingeralphabet verbreitete sich um die ganze Welt - teils als Ein-Hand-, teils als Zwei-Hand-Alphabet.
Die erste Gehörlosenschule der Welt
Die Gebärdensprache ist schon sehr alt: Immer dann, wenn Gehörlose untereinander Kontakt hatten, unterhielten sie sich mittels Gebärden. Die erste Gehörlosenschule weltweit wurde von dem Mönch Abbé de l’Epée 1770 in Paris gegründet. Hierhin kamen auch viele Pädagogen, studierten die Lehrmethoden und trugen sie in die Welt hinaus.
In Deutschland zunächst ohne Gebärden
In Deutschland gründete Samuel Heinicke im Jahre 1778 die erste staatliche Gehörlosenschule in Leipzig. Er stand im engen Austausch mit Abbé de l’Epée, hatte aber eine andere Vorstellung darüber, wie Gehörlose unterrichtet werden sollten: Während in Frankreich neben den Gebärden auch die Schriftsprache unterrichtet wurde, hielt Heinicke Gebärden für ungeeignet – er setzte komplett auf die Lautsprache. Erst sein Nachfolger Ernst-Adolf Eschke testete die Gebärdensprache im Unterricht und änderte daraufhin das Konzept.
Der Kampf um die Gebärdensprache
In Frankreich rückte die Gehörlosengemeinschaft in schwierigen Zeiten zusammen - nämlich, als ein neuer Pariser Schuldirektor 1834 die Unterrichtsmethode radikal zugunsten der Lautsprache ändern wollte. Die Gehörlosen vereinten sich, um sich für den Erhalt der Methode von de l’Epée stark zu machen. Zu einem ersten großen „Taubstummen-Bankett“, das rückblickend als die Wiege der Gehörlosen-Selbstbestimmung bezeichnet wird, kamen damals Gehörlose aus aller Welt. In Deutschland befürwortete der gehörloser Pädagoge Otto-Friedrich Kruse den Einsatz der kombinierten Methode von Gebärdensprache und Lautsprache. Zwischen 1867 und 1870 spitzte sich in Deutschland der Methodenstreit zwischen Oralisten und Gebärdensprachbefürworten wie Kruse zu. Und dennoch blieben seine Bemühungen erfolglos: Beim Mailänder Kongress der Taubstummenlehrer 1880 wurde ein Beschluss von den über 150 nahezu ausschließlich hörenden Pädagogen gefasst, die Lautsprachmethode – also den Oralismus - einzuführen. Der Einsatz der Gebärdensprache im Unterricht war von da an verboten.
Düstere Zeiten
Ein tragischer Wendepunkt für die Gehörlosen, dessen Konsequenzen für rund einhundert Jahre Bestand haben sollten. Gleichzeitig verlief eine andere schwierige Entwicklung: In der damals einsetzenden Industrialisierung traute man den Gehörlosen nicht zu, dass sie die gleiche Arbeit leisten können wie Hörende. Sie wurden immer stärker aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Einziger positiver Nebeneffekt: Die Gehörlosengemeinschaft wuchs zu dieser Zeit enorm – und wurde immer stärker. Die Gebärdensprache selbst erlebte bis in die 1930er/40er Jahre allerdings einen Stillstand. Und damit nicht genug: Man versuchte Gehörlose zu Hörenden zu machen, sie also zu „reparieren“. In Deutschland sollte durch Sterilisation sogar unterbunden werden, dass Gehörlose Nachkommen haben. Sogar nach dem Krieg mussten einige Gehörlose noch Armbinden tragen, damit man sie erkannte. Ein düsteres Kapitel.
Mehr Bedeutung durch Forschung
Erst durch den Amerikaner William Stokoe bekam die Gebärdensprache in den 1960er Jahren wieder mehr und neue Bedeutung: Er gliederte die Gebärden in ihre kleinsten Teile auf und strukturierte sie dadurch. Stokoe belegte die linguistische Vollwertigkeit der Amerikanischen Gebärdensprache. Diese Erkenntnisse gelangten auch nach Deutschland. In den 1980er Jahren wurde die Deutsche Gebärdensprache von Hamburg aus erforscht: Siegmund Prillwitz, ein hörender Professor, und seine „3 Musketiere“ Heiko Zienert, Alexander von Meyenn und Wolfgang Schmidt - drei Gehörlose - waren als Forschergruppe in Hamburg tätig. 1985 wurde der erste Gebärdensprachkongress in Deutschland veranstaltet. Es gab heftige und kontroverse Diskussionen. Und ein bahnbrechendes Statement.
"Die Deutsche Gebärdensprache ist keine Anhäufung von Einzelzeichen, sondern wie die Lautsprache ein Zeichensystem mit einer eigenen Grammatik."
Prof. Siegmund Prillwitz
Gebärdensprache als vollwertig verankert
Mittlerweile wird die Gebärdensprache als vollwertige Sprache anerkannt – da sind sich die UN-Behindertenrechtskonvention, das Europäische Parlament und die Internationale Konferenz zur Erziehung und Bildung einig. Es gab sogar eine Entschuldigung für den Beschluss von 1880. Auf der Internationalen Konferenz zur Erziehung und Bildung Gehörloser (ICED) 2010 in Vancouver (Kanada) wurde für die Resolution von Mailand eine offizielle Entschuldigung veröffentlicht verbunden mit dem Eingeständnis, dass diese Resolution für gehörlose Menschen weltweit negative Folgen hatte. Und auch die Gesellschaft respektiert die Gebärdensprache immer mehr. Ein guter Weg.