Campus Doku Geballte Wut - Werden Jugendliche immer brutaler?
Weil einer „blöd kuckt“, prügeln sie los. Sie schlagen, treten gegen den Kopf und ins Gesicht. Wenn ihre Opfer regungslos am Boden liegen, hören sie längst noch nicht auf. Jugendliche Gewalttäter, die wachsende Angst verbreiten. Werden sie wirklich immer brutaler?
Berichte über U-Bahn-Schläger im Teenageralter scheinen den Eindruck zu bestätigen: Die Hemmschwelle ist niedriger geworden; der Kopf ist bevorzugtes Ziel von Schlägen und Tritten und auch wenn das Opfer schon hilflos am Boden liegt, ist das für den Angreifer oft kein Grund, aufzuhören. Doch die polizeiliche Kriminalstatistik überrascht. Sie verzeichnet bei der Gewaltkriminalität Jugendlicher in den letzten Jahren sogar einen Rückgang. Campus Doku fragt nach bei Wissenschaftlern und Praktikern: Werden Jugendliche tatsächlich immer brutaler? Oder beeinflussen die Bilder der Überwachungskameras unsere Wahrnehmung?
Endstation Knast - Zu spät für ein gewaltfreies Leben?
Die Lebenslauf des 21jährigen Max hört sich an wie der vieler anderer im Jugendstrafvollzug: Die Eltern kamen aus dem Ausland hierher, sprachen nicht gut Deutsch, Max hatte in der Schule Probleme. Seine Eltern haben viel gestritten, als er zwölf war, ließen sie sich scheiden. Max war fast nur noch auf der Straße, "schauen, wie man Geld macht". Bei den Älteren in der Clique wollte er sich beweisen, indem er trank und zuschlug. Seit er 14 war, nahm er regelmäßig Drogen. In der 7. Klasse flog er von der Schule - kein Abschluss, keine Ausbildung. Max Schlägereien führten zu Anzeigen wegen Körperverletzung und schließlich zur ersten Haftstrafe.
Mittlerweile ist er zum dritten Mal in Haft und sitzt nun seit einem Jahr in der JVA Neuburg-Herrenwörth ein. Deren Insassen sind alle nach Jugendstrafrecht verurteilt. Anders als beim Erwachsenenstrafrecht zählt hier der Erziehungsgedanke. Die Täter sollen nicht nur bestraft werden, sondern vor allem lernen, straf- und gewaltfrei durchs Leben zu kommen. In der JVA Neuburg-Herrenwörth gibt es Therapieplätze speziell für jugendliche Gewalttäter. Max soll lernen, über sich, die Familie, die eigenen Taten zu sprechen - das fällt ihm wie den meisten schwer. Noch schwerer fällt es Max, sich für seine Gewalttaten wirklich verantwortlich zu fühlen und sich in die Situation seiner Opfer hineinzuversetzen. Viele der jungen Gewalttäter haben außerdem ein Männlichkeitsideal, bei dem es darauf ankommt, stark und hart zu sein.
Psychologin Martina Thiel, die mit den jungen Gewalttätern arbeitet, stellt, nach Durchsicht der Gerichtsakten der letzten Jahre, eine höhere Brutalität fest. Wie erfolgreich das Therapieprogramm in der JVA ist, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Aber sie findet bei einigen Tätern die Motivation, sich zu ändern - eine Voraussetzung für die Teilnahme an der Therapie.
Antigewalttraining - Kampfsport gegen Aggressionen
Ali Cukur ist Cheftrainer der Box-Abteilung des TSV 1860 München und hat viele Meisterpokale gewonnen, für sich und mit seinen Box-Schülern. Der Mann mit türkischen Wurzeln ist aber auch ausgebildeter Antigewalttrainer und arbeitet im Rahmen der Jugendgerichtshilfe mit verurteilten gewalttätigen Jugendlichen wie dem 16jährigen Taifun, der seine gleichaltrigen Opfer krankenhausreif geschlagen hat und zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. Er bringt Jugendlichen im Ring Regeln und Disziplin bei, sie sollen lernen, ihre Gegner zu respektieren. Er hat in vielen Berufsjahren beobachtet, dass gerade junge Männer, die Selbstbestätigung suchen, sie aber in ihrem sozialen Umfeld nicht bekommen, zu Gewalt neigen. Wenn sie zu ihm ins Training kommen, gelobt werden und ihre positiven Fähigkeiten kennenlernen, meint Ali Cukur, brauchen sie die Gewalt auf der Straße nicht mehr.
Der Sozialpädagoge und Boxer Oliver Hoffmann von Brücke Oberland e.V., der mit Cukur zusammen die schwierigen Jugendlichen betreut, sieht im exzessiven Alkoholkonsum eine entscheidende Ursache, warum die jungen Schläger ausrasten und total die Kontrolle verlieren. Cukur und Hoffmann beobachten und testen ihren Schützling im Boxtraining. Sie wissen, wie Taifun reagiert, in welchen Situationen er die Beherrschung verliert. Diese Erkenntnisse aus dem Boxtraining lassen sie in die Therapiegespräche und die Arbeit mit der Familie einfließen. Als Sportler und Therapeuten konfrontieren sie Taifun unnachgiebig mit den schweren Verletzungen, die er seinen Opfern zugefügt hat. Aber sie leben ihm auch Werte vor, wie Oliver Hoffmann sagt: Als Männer, die sportlich fair zuschlagen können, sich aber auch ganz klar gegen Gewalt äußern und Beziehung anbieten, für jemanden da sein können, sensibel und emotional sind.
Mädchen und Gewalt
Mädchen, so war es früher gesellschaftlicher Konsens, wurden früh dazu erzogen, brav und zurückhaltend zu sein. Das machte und macht sie immer noch in den meisten Fällen zu Opfern. Positiv ist heute zu bewerten, dass Mädchen sich eher wehren als früher, wenn sie Opfer von Gewalt werden. Aber da ist auch die andere Seite: Gerade Mädchen in den Altersgruppen 10-14 und 14-18 Jahre haben in den vergangenen Jahren in der Kriminalitätsstatistik aufgeholt. Mitglieder von Mädchencliquen schlagen heute fast ebenso enthemmt zu wie Jungen. Die Jugendbeamten der Münchner Polizei stellen aber fest: Mädchengewalt ist trotzdem nicht gleich Jungengewalt. Mädchen sind weniger Einzeltäter, sondern prügeln sich mehr in der Gruppe, drei gegen drei, sie kratzen, beißen, spucken. Aber meistens gehen Mädchen subtiler vor, wenn sie Gewalt ausüben, hat Jugendbeamtin Sylvia Lihotzky beobachtet. Eine Schlägerei baut sich über Wochen auf, in Form von Beleidigungen oder Bedrohungen, so wird Druck auf das Opfer ausgeübt, bis es letztendlich zum ersten Schlag kommt. Die Polizisten, die für die Mädchen und Jungen, z.B. im Hasenbergl zuständig sind, sind ständig in ihrem Revier unterwegs, in Zivil, sie kennen "ihre" Jugendlichen, arbeiten mit Schulen und Freizeiteinrichtungen zusammen. Sie wollen Gewalt verhindern, damit es gar nicht erst zum Schlagabtausch kommt. Sie setzen auf Gespräche.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer verneint nicht, dass Mädchen heute gewalttätig werden, warnt aber davor, die Situation überzubewerten. Die Studien seines Instituts zeigen, dass die Jungen gegenüber den Mädchen bei Delikten einfacher Körperverletzung schon im Verhältnis 3:1 dominieren, bei den schweren, gefährlichen Körperverletzungen mit 6:1, bei den Raub- und Tötungsdelikten mit 8:1.
Bilder der Gewalt verändern die Wahrnehmung
Der Sozialwissenschaftler Bernd Holthusen beschäftigt sich am Deutschen Jugendinstitut in München mit Jugendkriminalität. Er bemerkt, dass die Gesellschaft für Gewaltphänomene sensibler geworden ist. Gewalt in der Erziehung ist in Deutschland erst seit der Gesetzesänderung im Jahr 2000 verboten. Das macht sich jetzt zunehmend in der Haltung der Gesellschaft zu Gewalt bemerkbar. Bernd Holthusen macht für die "gefühlte Kriminalitätstemperatur" vor allem verantwortlich, dass zu Gewalt immer mehr Bilder vorliegen, z.B. von Überwachungskameras, die es früher nicht gab und meint, das führe in der Gesamtheit dazu, dass in der Wahrnehmung die Jugendlichen immer brutaler werden, wofür die Forschung empirisch und in den Statistiken keine Belege habe.
Nur ein Prozent der Jugendlichen ist extrem aggressiv, etwa fünf bis acht Prozent der jungen Schläger, Mörder und Diebe werden laut Studienergebnissen auch als Erwachsene eine kriminelle Karriere einschlagen. Es geht um eine sehr kleine Gruppe von Jugendlichen, die trotzdem nicht bagatellisiert werden darf. Forscher und Praktiker sind sich einig darin, dass Prävention auf verschiedenen Ebenen stattfinden muss, ob auf der Straße oder im Sportverein. Jugendstrafe allein wird junge Gewalttäter nicht von weiteren Taten abhalten - die Rückfallquote bei Jugendlichen, die einmal im Jugendarrest waren, liegt bei ca. 70 Prozent. Gezielte Therapieangebote im Strafvollzug sind aber erfolgversprechend, wie neue Daten zeigen.
Kein Training kann garantieren, dass gewaltbereite Jugendliche nie wieder zuschlagen - Konflikte ohne Gewalt zu lösen, das müssen die Jugendlichen selbst wollen.