Bob Dylan - Nobelpreisträger für Literatur und Gitarre "Bücher lesen ist hart"
Selten löste ein Literatur-Nobelpreis so emotionale Reaktionen aus. "Ein Schock" - "ein Witz" - "Wer, wenn nicht er?" Nur einem geht das Thema offenbar am Allerwertesten vorbei.
Rund 20 Jahre lang wurde Bob Dylan (75) mit schöner Regelmäßigkeit für den Nobelpreis vorgeschlagen - und ging stets leer aus. Zu gewagt erschien es der Jury wohl, einem Musiker die höchste Literaturauszeichnung der Welt zuzuerkennen. Nun hat sie sich getraut, die favorisierten Romanautoren und Dramatiker haben das Nachsehen. Bob Dylan wird für seine "poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Song-Tradition" geehrt.
Dylan schreibe, um mit seinen Werken aufzutreten, erklärte die Chef-Jurorin Sara Danius. Nichts anderes habe der Dichter Homer vor einigen Jahrtausenden auch getan. Die klassische Herleitung kommt nicht von ungefähr: Der Philologe und Dylan-Biograf Heinrich Detering hat schon vor Jahren Dylan-Zitate mit Passagen von Ovid verglichen und überraschende Übereinstimmungen gefunden. Für Detering kommt die Ehrung genau zur richtigen Zeit - "weil es scheint, als hätte Dylan sein facettenreiches Werk im Wesentlichen abgeschlossen." Das sehen nicht alle so.
"Dylan ist eine Ikone. Sein Einfluss auf die zeitgenössische Musik ist groß."
Aus der Begründung der Schwedischen Akademie
"Ich verstehe die Jury. Bücher lesen ist hart."
Dylans 'Schriftstellerkollege' Gary Shteyngart auf Twitter
Literaturnobelpreis für Bob Dylan - Reaktionen von Springsteen bis Rushdie
US-Präsident Barack Obama
Bruce Springsteen
"Bob Dylan ist der Vater meines Landes. Er hat sich getraut, die Fragen zu stellen, die niemand anders stellen wollte." (via Twitter)
Gary Shteyngart, Schriftsteller
Sibylle Berg
"Die Chancen für mich, den Nobelpreis in Physik zu bekommen, haben sich gerade dramatisch erhöht #literaturnobelpreis". Autorin Sibylle Berg Facebook
Salman Rushdie
"Von Orpheus bis Faiz waren Lieder und Poesie stets eng miteinander verbunden. Dylan ist der geniale Erbe der Bardentradition. Großartige Wahl." (im Guardian via Twitter)
Heinrich Detering
"Dylan hat wie kein anderer die moderne amerikanische Musiktradition mit der literarischen Hochkultur zu einer neuen Kunstform vereint - Ovid mit Blues, Shakespeare mit Gospel. Es wäre deshalb ein großes Missverständnis zu meinen, er werde nur für die Qualität seiner Texte ausgezeichnet. Texte, Musik und Performance sind eine Trias." Der Literaturwissenschaftler und Dichter Heinrich Detering zur Deutschen Presse-Agentur
Frank Walter Steinmeier
"Die Stockholmer Jury hat eine mutige Entscheidung getroffen, mit der sie auch in diesem Jahr wieder die Genregrenzen sprengt. Sie ehrt einen der größten Musiker des 20. Jahrhunderts, der wie kein anderer Millionen Menschen auf der ganzen Welt mitgerissen und mit seinen Texten und ihren tiefen Wahrheiten direkt ihre Herzen erreicht hat." Außenminister Frank Walter Steinmeier, schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes
Monika Grütters
"Dylan hat natürlich auch meine Jugend geprägt mit großen Balladen und Texten wie 'Knockin' on Heaven's Door' oder 'Like a Rolling Stone'. Das wirkt bis heute nach, das ist gute Literatur." Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Gespräch mit BR24
Irvine Welsh
"Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgie-Preis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies." Der britische Schriftsteller Irvine Welsh ("Trainspotting") auf Twitter
Mircea Cartarescu
"Niemand bestreitet, dass er ein genialer Musiker und ein großer Dichter ist, ich selbst habe ihn übersetzt. Aber es tut mir so leid um die wahren Schriftsteller, Adonis, Ngugi, DeLillo und weitere 2-3, die den Preis beinahe in der Tasche hatten. [...] Ich habe mein erstes Posting gelöscht, das ich wegen der großen Überraschung gemacht hatte. Vielleicht lösche ich auch dieses, denn ich bin immer noch schockiert und rede immer noch Unsinn." Mircea Cartarescu auf Facebook.
Sigrid Löffler
"Diese Texte sind keine eigenständige Lyrik, denn sie funktionieren nur, wenn sie gesungen sind." Literaturkritikerin Sigrid Löffler bei MDR Aktuell
Denis Scheck
"Gelegentlich erlaubt sich die Akademie ein 'Späßken'. Die Auszeichnung von Bob Dylan ist genauso ein Witz wie es die von Dario Fo war. Am besten, man lacht mit." Literaturkritiker Denis Scheck gegenüber der Deutschen Presse-Agentur
Hannes Wader
"Hat es das schon mal gegeben...? Den Literaturnobelpreis für einen Singer-Songwriter...? Egal - ich finde es wunderbar, dass Bob Dylan diesen Preis bekommt. Nichts könnte gerechtfertigter sein als die Vergabe des bedeutendsten Literaturpreises an den (meiner Meinung nach) größten lebenden Songpoeten der Welt." Liedermacher Hannes Wader in einem schriftlichen Statement
Heinz Rudolf Kunze
"Ich finde es gut, wenn auch obskure Autoren den Preis bekommen, aber es war höchste Zeit, dass mal wieder jemand den Preis bekommt, der Millionen Menschen erreicht hat. Seit meiner Studentenzeit war er für mich eine Messlatte und ein Trost. Er hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, komplexe Texte mit Musik zu verbinden - man kann damit Menschen erreichen." Deutsch-Rocker Heinz Rudolf Kunze im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur
Die Linke
"Yeah! "His Bobness". #BobDylan bekommt den #Literaturnobelpreis! "All das Geld, das ihr gemacht habt, wird niemals eure Seele zurück kaufen können." - aus dem Song "Masters of War" (Original engl.: "All the money you made will never buy back your soul.") Die Linke über Facebook
KathNet
Auffällig: Während die meisten Musikerkollegen Dylans auf die Ehrung wohlwollend bis euphorisch reagieren, ist das Echo unter den Buchautoren und im Feuilleton deutlich vielstimmiger. Ein "Späßchen" der Jury (Denis Scheck) - oder eine zukunftsweisende Entscheidung, die geeignet ist, das Gefälle zwischen Hoch- und Popkultur einzuebnen?
"Ich hoffe, daß ernsthafte Texter wie Leonard Cohen auch als Schriftsteller ernst genommen werden. Sie sind Schriftsteller. Es gibt diesen künstlichen Snobismus, was Literatur ist und was nicht. Ich hoffe, daß die Entscheidung diese Barrieren generell einreißt."
Anna North in der New York Times
Und Dylan selbst?
Singt, aber sagt nichts. Wenige Stunden, nachdem die Jury ihre Entscheidung bekannt gegeben hat, gibt Dylan ein Konzert in Las Vegas. 70 Minuten Klassiker, jubelnde Fans, nur am Anfang des Konzerts exakt zwei gesprochene Worte des Meisters. Rufe aus dem Auditorium - "Nobel Laureate!" (Nobelpreisträger!) - überhört der Sänger. Erst sehr viel äußert "silent Bob" halbwegs Offizielles.
"Hello Las Vegas"
Bob Dylan am Abend der Jury-Entscheidung in der Konzerthalle eines Casinos
Alles fließt: "His Bobness" im Porträt
Ist der Nobelpreis ein Schlüsselmoment in Bob Dylans Leben? Eher nicht. Jedenfalls nicht so einer wie damals auf der 1978er-Tournee.
Irgendjemand - so die Legende, vielleicht einer der 70.000 Fans auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg - habe dem Sänger ein silbernes Kreuz auf die Bühne geworfen und ihn damit ins Herz getroffen. Ein Jahr später verblüffte Dylan seine Fans, indem er als wiedergeborener Christ der "Vineyard Fellowship" auf die Bühne kam und Gospels anstimmte. Es sind diese Motive, die immer wieder auftauchen, wenn von Dylan, dem Erzähler erzählt wird: auf Tour, mysteriöses Erweckungserlebnis, ungewohnte Klänge, irritierte Fans.
Bob, der unterwegs ist und in voller Fahrt den Kurs ändert. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Dylan so beneidenswert treue Fans hat: Die anderen hat er längst abgeschüttelt.
Zum 70. Geburtstag des Künstlers vor fünf Jahren baten wir Dylanologen und BR.de-Leser, uns ihre Erfahrungen mit Bob Dylan zu schreiben. Eine Auswahl lesen Sie hier. Darunter die Gratulationen von Wolfgang Niedecken, Sven Regener und Georg Ringsgwandl zu Dylans 75.
Fanpost: "Ich und Bob Dylan"
Klaus Hornischer kennt Bob aus dem Gemeindehaus
"1966, Partytime im evangelischen Gemeindehaus Mittenwald von 19 bis 21.45 Uhr (um zehn daheim!). Einer hatte diese Dylan-LP dabei, "Bringing it all back home", und meinte, wir sollten mal zuhören. "She belongs to me", ein Liebeslied, wie ich es noch nie gehört hatte. "Tambourine Man" kannte ich von den Byrds, aber so intensiv wie Dylan das gebracht hat ... Irgendwie war ich in einer anderen, neuen Welt. Zum Glück hatte das örtliche Plattengeschäft zwei (!) Dylan-Platten. Mittlerweile habe ich auch die anderen, über 3.000 Bootlegs und mindestens 30 Konzerte gesehen. Das Tolle: Wenn man "Like a Rolling Stone" in verschiedenen Studioversionen hört und dann live 1978, 1984, 1999 ... ist das jedesmal ein neuer Song. "
Klaus Hornischer ist Vollblut-Dylanfan und hat längst im Gefühl, warum Dylan in München anders klingt als Tage zuvor in Ischgl.
Nicole Hornischer ist "forever young"
"Bob Dylan war der erste Musiker, mit dem ich in Kontakt kam. Ich war kaum zwei Wochen alt, kam in meinem Tragetäschchen aus dem Krankenhaus und mein Vater spielte mir zu Hause als Erstes "Forever Young" vor, natürlich auf Schallplatte. Dieses "Ritual" hat er mit meinen Geschwistern auch vollzogen. Übrigens: Wir alle haben einen Vornamen mit Bob-Dylan-Bezug: Meine Schwester heißt Corinna, mein Bruder Klaus Robert und ich Ramona Nicole."
Nicole Hornischer ist Dylanfan-Tochter
Ulli Wenger hat mit Jammerlappen-Bob gefrühstückt
Anfang der 70er bin ich oft mit Helga Guitton von Radio Luxemburg wach geworden. Morgens ab 8.00 Uhr las sie in ihrer Sendung "Herrenmagazin" (!) Hörergedichte vor, als Erkennungsmelodie lief dabei stets ein wimmerndes Musikstück, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging und von dem ich erst sehr viel später erfuhr, dass es "Wigwam" hieß und ausgerechnet von Bob Dylan stammte! Den fand ich toll, weil er 1975 mit seinem achtminütigen Hit "Hurricane" die Welt auf das Schicksal des unschuldig verurteilten schwarzen Boxers Rubin Carter aufmerksam machte.
Ulli Wenger ist zu 2/3 Dylan-Fan, Musikexperte bei Bayern 3 und hat später eine Frau Zimmermann geheiratet
Knut Wenzel schätzt den Augenkontakt
Die 80er-Jahre waren sein schwierigstes, sein dunkles Jahrzehnt, auch auf der Bühne: Hatte er zuvor seine Lieder oft in ein Delta launiger Unterhaltungen gebettet, so passiert jetzt die Wende ins Gegenteil: kein Wort jenseits der Songs, er spielt mit dem Rücken zum Publikum, steht im Schatten der Bühnenbeleuchtung und trägt stets eine wirklich sehr dunkle Sonnenbrille. Bis es dann, Anfang der 90er, zu einem regelrechten Bühnenereignis wird, dass er, am Ende einer Show, die Brille abzieht, wie in einer Geste des Danks und des Respekts gegenüber dem Publikum. Seitdem spielt er ohne sie. Die Konzentration auf die Songs ist geblieben und der Blick, er geht ganz nach innen. Nur manchmal blitzt es aus den Augen, als würden die Lider kurz sich öffnen über einer inneren Fülle, aus der er die Bedeutungsspannung seiner Kunst schöpft.
Knut Wenzel ist Theologieprofessor, Dylanfan und -autor
Andres Janser schaut Dylan gern beim Schweigen zu
Unsere Ausstellung "Bewegte Schrift" in Zürich hat es gezeigt: Im Kino, auf Monitoren, fast überall sehen wir heute Worte und Sätze, die sich vor unseren Augen bewegen. In Musikvideos ist dies besonders augen- und ohrenfällig, wenn sich simultan zu lesende und zu hörende Liedtexte gegenseitig in der Wirkung steigern. Man geniesse Clips wie "Mediate" von INXS oder "Nur ein Wort" von Wir sind Helden. Und vergegenwärtige sich: Die Erfindung, nicht zu singen und stattdessen Fragmente des Songtextes auf Papierbögen nonchalant zu Boden fallen zu lassen, verdanken wir Bob Dylan und seiner Tourneefilm-Version von "Subterranean Homesick Blues", die manche für das erste Musikvideo der Popgeschichte halten.
Andres Janser, Kurator im "Museum für Gestaltung Zürich", mag Dylan, fallende Blätter und tanzende Buchstaben
Herbert Hauke hütet einen Liebesbrief
Ein gewisser Robert Zimmermann schreibt seiner Diana 1959 einen kleinen süßen Liebesbrief. Und der hängt im Rockmuseum München. Wieso denn das? Weil Robert Zimmermann Bob Dylan ist, der diese Liebeserklärung mit richtigem Namen unterschrieben hat. Weshalb ich das Ausstellungstück noch interessanter finde als seine signierte Mundharmonika daneben. Ich mag an Bob Dylan, dass er eine unglaubliche Projektionsfläche für Legenden und Interpretationen bietet. Hinter allem steckt ein Mensch, der der Welt viel zu geben hatte und hat. Es bleibt mehr als im Wind verwehte Worte!
Herbert Hauke ist Dylanfan, Macher des Münchner Rockmuseums im Olympiaturm und Autor ("Münchner Rock-G'schichten", Volk Verlag 2011)
Nick Petzold kennt auch Leute, die Dylan nicht so mögen
Mein tollstes und mein bizarrstes Dylan-Erlebnis hatte ich beim Open-Air in Schwäbisch Gmünd. Nach einem Unwetter war der abendliche Himmel blutrot, und vor dieser apokalyptischen Kulisse spielte Dylan grandiose, umwerfende Musik. Den Mann neben mir interessierte das aber wenig: Er war wegen des Support Acts gekommen, wegen eines Blues-Gitarristen aus der Region, der sich mühsam durch die zwölf Takte gniedelte. Als der von der Bühne gegangen war, sagte mein Nebenmann: "Diesem Dylan geb ich drei Songs." Nach dem dritten Song, "Desolation Row", war ich halb ohnmächtig vor Glück. Und mein Nebenmann sagte Servus.
Nick Petzold ist nicht mal halb so alt wie Bob Dylan, hat ihn aber schon 15-mal gesehen (und viel Geld für Bootlegs ausgegeben, bevor die plötzlich alle umsonst im Internet standen)
Gabi Stauffers Lohn der Geduld
1978 war ich 18 und wollte unbedingt nach Nürnberg zum Bob-Dylan-Konzert. Ich war ein Mega-Fan. Leider war ich damals noch sehr unterdrückt und mein Vater hat es mit fiesen Mitteln (Verbot!) geschafft, dass ich nicht gefahren bin. Das hab ich ihm lange nachgetragen. So hat es zu meinem ersten Dylan-Konzert dann bis in die 90er-Jahre gedauert - es war in Linz, ich bin bis nach vorne zur Bühne gegangen und war einfach nur glücklich - es war so überwältigend, Bob Dylan, dessen Songs mich das ganze Leben begleitet haben, plötzlich live vor mir zu sehen und ihn ganz nah zu erleben.
Gabi Stauffer ist ein Dylanfan aus Wien und hat über zehn Jahre geduldig auf den ersten Konzertbesuch gewartet.
Henry Bauers Dylan-Prägung
Ich bin mit Dylan und seiner Musik aufgewachsen und habe ihm ein Lied geschrieben als Dank und Ehrerweisung. Er hat auch meine musikalische Stilrichtung geprägt,das Interesse am Gitarrespielen geweckt und auch die jugendtypische Protesthaltung geprägt.
Henry Bauer ist Dylanfan aus Neuwied
Erik Strietzel lässt sich inspirieren
Seit meiner frühen Jugend begleitete mich Robert Allen Zimmermann musikalisch. Viele meiner Gedichte und Texte sind durch ihn entstanden, weil er meine Lebensweise gravierend beeinflusst hat. Ein großer Lyriker, und die Musik geht ins Ohr. Nicht zuletzt seine fantastische, recht außergewöhnliche Stimme, welche sehr gut zu seinen Texten passt. Keep on doing, Bob.
Erik Strietzel ist Dylanfan aus Gifhorn
Geburt eines Superstars: Bob trifft Woody
Sein erstes Erweckungserlebnis hat der 18-jährige Robert Allen Zimmermann, Elektrohändlerssohn aus Minnesota, in einem Sanatorium in New York. Er kann Klavier, Gitarre und Mundharmonika spielen, hat Dylan Thomas und Jack Kerouacs "On the road" gelesen und ist selbst ein bisschen im Land unterwegs gewesen. Darüber will er jetzt in den Clubs von Greenwich Village singen, am Anfang - so machte man das damals - mit den Worten anderer.
Also besucht Bob den Folk-Großmeister Woody Guthrie, der an einer Nervenkrankheit dahinsiecht, singt ihm dessen alte Songs vor, holt sich Rat und eine Erkältung. Woody Guthrie verrät Bob Dylan, dass in seinem Keller noch Kisten voller Songs lagern. Den Weg zu Woodys Haus schildert Dylan so: Mit der U-Bahn sei er zur Endstation Brooklyn gefahren ...
"Auf der anderen Seite eines Feldes sah ich eine Häuserzeile, wie Woody sie beschrieben hatte, und ging darauf zu und merkte, dass ich geradewegs in einen Sumpf geriet. Ich versank bis zu den Knien im Wasser, ging aber trotzdem weiter - ich konnte die Lichter vor mir sehen und ein anderer Weg war nicht zu erkennen. Als ich den Sumpf am anderen Ende wieder verließ, waren meine Hosenbeine von den Knien abwärts durchweicht und steifgefroren und meine Füße fast taub, aber ich fand das Haus und klopfte an die Tür."
Bob Dylan: Chronicles Vol. 1. Hoffmann und Campe 2004, S. 105
Leider ist nur das Kindermädchen da und schickt Dylan unverrichteter Dinge nach Hause.
Bob Dylan: Pilger mit nassen Socken, Messias mit Maske ...
Bob mit Schlamm zwischen den Zehen: War das so? Oder steht der Sumpf für die Urgründe amerikanischer Folkmythen, die Dylan hinfort teilt wie Moses das Rote Meer? Vielleicht gar für Muddy Waters, jenen Bluesgott, aus dessen "Rollin' Stone" Dylan den Titel eines anderen Songs schnitzt, den ein US-Fachmagazin gleichen Namens 2004 zum wichtigsten Song der Popgeschichte kürt - übrigens knapp vor den Rolling Stones?
Was wir wissen: 1960 ist aus Robert Zimmermann ein Folksänger geworden, drei Alben später aus Bob Dylan ein Weltstar, den die Friedensbewegung zu ihrer Stimme macht. Dylan aber taugt nicht zur Gallionsfigur, er will Schiff sein und den Kurs selbst bestimmen - notfalls unter falscher Flagge.
Über seine Herkunft erzählt er jedem, der es hören will, etwas anderes. Er nutzt Pseudonyme wie Blind Boy Grunt und Robert Milkwood Thomas, und in der Philharmonic Hall überrascht er das Publikum an einem Oktoberabend des Jahres 1964 mit der Mitteilung "Es ist Halloween und ich habe meine Bob-Dylan-Maske auf". Seine Texte sind oft biblisch, zunehmend kryptisch, manchmal obszön.
... und Judas unter Strom
1965 schockiert er die konservative Folk-Gemeinde, als er sich mit E-Gitarre auf die Bühne stellt und seine Songs rockt, was ihm wüste Beschimpfungen ("Judas!") einträgt - und der Rockgeschichte in Folge einige ihrer besten Momente.
Klassiker sind neben den großen Alben der Zeit auch jene Songs, die der Familienvater als Kellerkumpelprojekt "The Band" unter Ausschluss der Öffentlichkeit einspielt und die tausendfach als Bootlegs - illegale Live-Mitschnitte - kursieren, bevor sie ab 1975 als "Basement Tapes" erscheinen.
In den 70ern fasert das Werk ein bisschen aus, Mittelmaß wechselt mit Meilensteinen wie "Blood on the Tracks", große Tourneen mit Drogen- und Scheidungskummer. Die Liebe Dylans zum Country teilen viele Fans. Ärger gibt es, als er zum Christentum konvertiert und mit "Slow Train Coming" 1979 ein kraftvolles Soul-Album einspielt, über das Dylanologen sich nach dem dritten Bier noch immer in die Haare kriegen.
Tour ohne Ende, Deutungen ohne Zahl
Dem Meister ist das egal. Er ist seit 1988 auf "Never Ending Tour" und seit der Jahrtausendwende so unantastbar wie alle Künstler, die über Jahrzehnte Gipfel erklommen und Täler durchschritten haben. Irritieren könnte nur, mit welcher Konstanz Dylan in den vergangenen Jahren einen geradezu wertkonservativen Sound gepflegt hat. 2009 interpretiert Dylan Weihnachtslieder, 2015 Sinatra-Klassiker, auf Tour singt er immer öfter, was er früher stets ablehnte: das, was die Fans erwarten.
Dennoch rumort es weiter um Bob: Bei jeder neuen Platte, an seinen Geburtstagen oder wenn das neue Buch eines Dylanologen erscheint. Manchmal erntet Dylan Protest: 2011 etwa wegen der protestsongfreien Playlist seiner China-Konzerte, die er vor finanzkräftigen Publikum absolvierte. In seinem Blog antwortet Dylan den Kritikern, es habe keine Zensur gegeben, Restkarten seien an Waisenhäuser verschenkt worden, und im Übrigen solle jeder, der ihn kenne, ein Buch über ihn schreiben - wer weiß, was da noch schlummere.
Jetzt hat er, dessen Leidenschaft nie das Schreiben von Büchern, sondern von Songs war, den Literaturnobelpreis bekommen, für den er so lange im Gespräch war, dass kaum jemand mehr daran glaubte. Don't think twice, it's alright.
Kommentieren
johannes ost, Donnerstag, 13.Oktober 2016, 22:22 Uhr
10. Nobelpreis nur für Texte
Dylan kann den Preis nur für seine Texte und die Botschaft, die er rübergebracht hat, bekommen haben. Stimme und Gitarrenspiel sind auf deutsch gesagt "schrumm schrumm". Trotzdem finde ich ihn irgendwie sympathisch.
Gumbrecht Richard, Donnerstag, 13.Oktober 2016, 21:11 Uhr
9. Literaturpreis für Bob Dylan
Mit Erstaunen hörte ich dass der Literaturpreis an den Musiker Bob Dylan vergeben wird. Was hat dies mit Literatur zu tun? Sollte ein solcher Preis nicht an einen verdienten Literatisten vergeben werden. Nach meinem Verständnis tut man sich hierbei keinen Gefallen. Was denken sich die wirklich verdienten Literaturschreibenden und die internationale Presse?
Vielen Dank für Ihre Rückantwort
Mit den besten Grüßen
Richard Gumbrecht
Antwort von Steffen, Sonntag, 16.Oktober, 12:49 Uhr
Was ist denn ein Literatist? Und was ist verdient?
Heike, Donnerstag, 13.Oktober 2016, 18:51 Uhr
8. Kommentar 2
Meine Mail von vorhin war natürlich als Kommentar zum 2. Statement gedacht. - Grüße Heike aus Muc.
Stan, Donnerstag, 13.Oktober 2016, 18:48 Uhr
7. the times they are-a-changing
Musik und Lyrik inspirieren einander schon seit Beginn der Aufzeichnungen. Richard Wagner als Texter & Musiker sowie manche Opern-Librettisten haben Meisterwerke abgeliefert.
Bob Dylan hat den Nobelpreis verdient. Vielleicht eine Weichenstellung, wenn Musiker auch als Liedtexter ins Visier kommen. Dann dürfen auch Pete Sinfield (King Crimson), John Lennon, David Crosby oder Wolf Biermann in Betracht gezogen werden.
Weiherer, Donnerstag, 13.Oktober 2016, 18:48 Uhr
6.
Ja, jetzt gehen ihnen die Kandidaten aus. Krächzende Stimme, wie schon ein Vorredner bemerkte, Melodien geklaut usw....
Ja, da war die Jury ganz schön (über) gefordert.....
Antwort von Wolf, Donnerstag, 13.Oktober, 19:32 Uhr
Es wurde ja schließlich seine Lyrik geehrt,nicht seine schönen Augen oder sonstiges.
Antwort von Truderinger, Donnerstag, 13.Oktober, 19:46 Uhr
Hauptsache was zum Meckern! Falls es Ihnen entgangen ist - es ging weder um den Stimmennobelpreis noch um den Melodiennobelpreis.
Antwort von moritzberger, Freitag, 14.Oktober, 00:15 Uhr
will ja nicht auf 'ner Meinung rumhacken -- aber mal Hand auf's Herz wer hat sich schon die Arbeit gemacht und die Texte wirklich übersetzt (wenigstens einige)? Die einzige Gesamtübersetzung in's Deutsche ist ja wohl im Moment vergriffen - und ich hab nur son paar Standards geschafft - aber die waren bzw. sind gut. Wann wird schon mal über Literaturnobelpreis nicht nur in Akademikerkreisen diskutiert? Also triffts vielleicht ja doch!