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EU-Gipfel nach Brexit Bye bye, Britannien!

Nach dem Brexit-Schock tagen die 27 EU-Chefs in Brüssel, um über einen Fahrplan des britischen Ausstiegs zu beraten. Auch David Cameron ist da – ein letztes Mal. Geschenke zum Abschied kann er von Kanzlerin Merkel und ihren Kollegen nicht erwarten.

Von: Kai Küstner und Holger Romann

Stand: 28.06.2016 |Bildnachweis

Cameron im EU-Parlament | Bild: dpa/Stephanie Lecocq

Deutlich früher als die meisten seiner Amtskollegen traf der britische Premier Cameron im EU-Ratsgebäude, dem Versammlungsort für Gipfel-Treffen, in Brüssel ein: "Auch wenn wir die Europäische Union verlassen, kehren wir Europa nicht den Rücken zu. Diese Länder sind unsere Nachbarn, unsere, Freunde unsere Alliierten, unsere Partner", erklärte Cameron den Journalisten. Er hoffe auch in Zukunft, also auch nach dem Brexit, auf "größtmögliche Nähe" zur EU. "Das ist gut für uns und gut für sie." So der Premier wörtlich.

Brexit-Gipfel der EU: Vielstimmiger Chor

Mario Draghi, Chef der Europäischen Zentralbank (EZB)

Wegen des Brexits rechnet der EZB-Chef mit weniger Wirtschaftswachstum im Euroraum. Das Wachstum könnte in den nächsten drei Jahren zusammen um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte geringer ausfallen als bisher angenommen, warnte Draghi laut Diplomaten am Dienstag beim Brüsseler EU-Gipfel.

Standpauke und die kalte Schulter für Cameron

Schon die ersten Statements der Regierungschefs bei Ankunft machen klar: Cameron bekommt keinen herzlichen Abschied: Viele werfen ihm vor, der EU nicht nur das Ausstiegs-Referendum eingebrockt zu haben. Sondern auch schon in den Jahren zuvor mit Schimpftiraden Unzufriedenheit in seiner Heimat geschürt zu haben. Kanzlerin Angela Merkel und andere Spitzenpolitiker warnten London zudem vor Rosinenpickerei und verlangten eine zügige Eröffnung der Austrittsverhandlungen.

Wie aber könnte der zeitliche Fahrplan für die Ausstiegs-Gespräche aussehen? EU-Ratspräsident Tusk, Gastgeber bei Gipfeltreffen, bekräftigte: "Europa ist bereit, den Scheidungsprozess sogar heute zu beginnen." Und unterstrich damit den ausdrücklichen Wunsch der EU, die Gespräche nicht zu verschleppen. Das sieht man in Großbritannien anders. Weder die Sieger noch Wahlverlierer Cameron haben es mit der Trennung eilig.

"Die Verhandlungen mit der Europäischen Union müssen unter einem neuen Premierminister beginnen. Und korrekterweise muss der auch sagen, wann Artikel 50 zur Anwendung kommt, und der rechtliche Prozess zum Verlassen der EU startet."

Großbritanniens Premierminister David Cameron

Angst vor dem Zögern

Als Zielmarke nennt Cameron den Tory-Parteitag im Herbst. Was die 27 EU-Partner ins Schwitzen bringt. Denn laut besagtem Artikel 50 kann ohne offiziellen Antrag des betroffenen Mitgliedslandes nicht über die Scheidungs-Modalitäten verhandelt werden. In Brüssel ist die Sorge groß, das hauptsächlich innenpolitisch motivierte Zögern Londons könnte die allgemeine Unsicherheit noch verstärken und die Krise unbeherrschbar machen.

"Ich finde das skandalös. Zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent in Geiselhaft genommen, für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens."

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz

Zwingen, das Verfahren in Gang zu setzen, kann die Briten freilich niemand. Und so wird der Abschiedsbrief aus London – ungeachtet der Empörung - wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.

Kanzlerin Angela Merkel und die meisten anderen Ratsmitglieder haben sich wohl oder übel damit abgefunden. Zwar pocht auch Merkel darauf, die Spielregeln einzuhalten; konkrete Gespräche über einen Austritt würden erst geführt, wenn Artikel 50 aktiviert sei. 

Trotzdem rät sie davon ab, sich über diesen Punkt zu verkämpfen. Im Interesse der künftigen Beziehungen und eines guten Arbeitsklimas plädiert Merkel im Umgang mit den Briten für Besonnenheit und dafür, "keine schnellen und einfachen Schlüsse aus dem Referendum in Großbritannien zu ziehen, die Europa nur weiter spalten würden“.

Zweiter Gipfeltag ohne Cameron

Auf Vorschlag von Ratspräsident Donald Tusk werden die 27 am zweiten Gipfeltag erstmals ohne den Kollegen von der Insel beraten. Dann dürfte unter anderem ein deutsch-französisches Reformpapier über mehr Zusammenarbeit in der EU Thema sein. Eine Debatte, die freilich mehr dem demonstrativen Zusammenhalt dient als dem Formulieren handfester Ergebnisse. Um zu wissen, wohin die Reise ohne Großbritannien geht, ist es vier Tage nach dem Brexit-Schock noch zu früh.

Gleichzeitig erklärte Tusk, dass er einen Sondergipfel im September plane. Der solle sich dem tieferen Nachdenken über Europa und der Zukunft des Kontinents widmen. Auch dieses Treffen wird ohne die Briten stattfinden.

Turbulente Tage in London

Großbritannien braucht Zeit, um sich nach dem Brexit zu sortieren, denn das innenpolitische Chaos ist groß. In der Konservativen Partei laufen sich die Kandidaten warm für die Nachfolge von David Cameron. Der neue Parteichef, der gleichzeitig Regierungschef wird, wird in einer Urwahl bis zum 9. September bestimmt. Gehandelt werden Arbeits- und Sozialminister Stephen Crabb, Brexit-Trommler Boris Johnson, Innenministerin Theresa May und womöglich auch Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Auch in der Labour-Partei rumort es gewaltig. Deren Chef Jeremy Corbyn - vom extrem-linken Flügel - verlor heute krachend eine Vertrauensabstimmung in seiner Fraktion. Corbyn erklärte dennoch, er werde nicht zurücktreten. Schottland indes probt erneut den Aufstand. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon bekräftigte im Parlament, alle Optionen auszuloten, um Schottland in der EU zu halten und notfalls eine zweites Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten.







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Andre, Dienstag, 28.Juni 2016, 21:59 Uhr

16. Junker und Co. haben noch immer nichts verstanden...

Gerade heute darf ich aus anderen Medien erfahren, dass der Herr Kommissionspräsident das CETA-Abkommen unter Umgehung der nationale Parlamente durchsetzen möchte. Ausnahmsweise spielen u.a.die österreichische Bundesregierung nicht mit.
Junker ist alles, aber mit Sicherheit kein Demokrat.

  • Antwort von Nautilus, Dienstag, 28.Juni, 23:47 Uhr anzeigen

Oliver S., Dienstag, 28.Juni 2016, 21:26 Uhr

15. Blöde Frage ...

... aber muss die britische Regierung die Meinung von Otto-Normalbürger in GB als bindend annehmen oder sollten im Falle einer solchen Entscheidung mit vmtl. massiver Tragweite nicht evtl. Menschen das Letzte Wort haben, die über ausreichend Weisheit und Weitblick verfügen?

  • Antwort von Zwiesel, Dienstag, 28.Juni, 22:02 Uhr anzeigen

  • Antwort von Keine Zensur bitte, Dienstag, 28.Juni, 22:35 Uhr anzeigen

  • Antwort von Truderinger, Dienstag, 28.Juni, 22:48 Uhr anzeigen

  • Antwort von Neinsager, Dienstag, 28.Juni, 23:07 Uhr anzeigen

  • Antwort von Wanda, Dienstag, 28.Juni, 23:44 Uhr anzeigen

  • Antwort von Theo L., Dienstag, 28.Juni, 23:54 Uhr anzeigen

  • Antwort von Zwiesel, Mittwoch, 29.Juni, 08:11 Uhr anzeigen

Kritischer Bürger, Dienstag, 28.Juni 2016, 21:21 Uhr

14. Es ist mehr als ein EU-Exit nötig!

Ich verstehe mittlerweile beide Seiten nicht mehr.

Weshalb vertreten die Briten ihren, auch aus meiner Sicht, verständlichen Brexit nicht offensiv und werben dafür in ganz Europa?
Weshalb zieren sich die Resteuropäer diese Scheidung unverzüglich und mit allen Konsequenzen anzunehmen?

Beide Verhaltensweisen sind doch nur Bestätigung für alle Politikskeptiker wie mich, wonach das Volk grundsätzlich von den Politikern an der Nase herumgeführt wird und nur persönliche Interessen von Wirtschaftsmächtigen und davon abhängigen Politikern befriedigt werden.

Das gesamte europäische Volk braucht daher mehr als einen EU-Austritt. Es braucht eine Revolution, welche dieses gesamte Politik-, Wirtschafts- und Medien-Establisment hinwegfegt. Danach wird's sicherlich "schlechter" als bisher. Aber in jedem totalen Neuanfang liegt der Keim von Glück und Zufriedenheit - und das hat nur sehr wenig mit Reichtum und Macht zu tun. Lasst uns diese Schwelle überschreiten - die Zeit ist reif dazu!

  • Antwort von Zwiesel, Dienstag, 28.Juni, 22:07 Uhr anzeigen

  • Antwort von Alfons, Dienstag, 28.Juni, 23:11 Uhr anzeigen

  • Antwort von Kritischer Bürger, Dienstag, 28.Juni, 23:40 Uhr anzeigen

  • Antwort von Alfons, Mittwoch, 29.Juni, 01:03 Uhr anzeigen

johannes Ost, Dienstag, 28.Juni 2016, 21:04 Uhr

13. Rapport

Rapport, ein hässliches Wort aus dem Militärjargon. Welch eine Überheblichkeit gegenüber den Briten. Ich danke den Briten für den Brexit, und hoffe dass dieser ein Umdenken im Hause Europa auslöst, wonach es momentan allerdings noch nicht aussieht.

  • Antwort von Truderinger, Dienstag, 28.Juni, 22:51 Uhr anzeigen

  • Antwort von Verwechsler, Dienstag, 28.Juni, 23:14 Uhr anzeigen

  • Antwort von Hans Holtz, Mittwoch, 29.Juni, 00:01 Uhr anzeigen

  • Antwort von Zwiesel, Mittwoch, 29.Juni, 20:37 Uhr anzeigen

Stefan, Dienstag, 28.Juni 2016, 21:02 Uhr

12. Jaja...

Und am Ende wird's genau das werden...ne Rosinenpickerei...weil Mutti & Co. Mal wieder umfallen und sich einlullen lassen..

  • Antwort von Hellseher, Dienstag, 28.Juni, 23:15 Uhr anzeigen