Jugendpolitik-Expertin im Interview Wahlbeteiligung, Wahlalter und Wahl-o-Mat
Regina Renner ist Referentin für Jugendpolitik beim Bayerischen Jugendring (BJR). Sie spricht mit BR.de/nachrichten über Erstwähler und abnehmende Wahlbeteiligung, über das Wahlalter und nicht zuletzt den "Wahl-O-Mat" im Internet.
BR.de: Rund 648.000 Erstwähler gibt es heuer bei der Landtagswahl in Bayern. Wie entwickelt sich die Wahlbeteiligung bei den Jungwählern?
Regina Renner: Die Wahlbeteiligung bei den Jung- und Erstwählern war zuletzt rund 17 Prozent niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Die Rückgänge der letzten Jahre scheinen aber nahezu gleich zu verlaufen, mit der konstant niedrigeren Wahlbeteiligung von jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren. Die interessanterweise bei den Landtagswahlen nochmals niedriger ist als bei den Bundestagswahlen.
Es ist zu vermuten, dass die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl unter anderem höher ist, weil man deutlich weniger Landespolitik(er) in den Medien findet als Bundespolitik(er). Auch stehen die bundespolitischen Themen stärker im Fokus als die landespolitischen.
BR.de: Was sind die Themen, die für die Erstwähler von größtem Belang sind?
Regina Renner: Die relevanten Themen für Erstwählerinnen und Erstwähler sind alle die, die sehr nahe an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen sind, zum Beispiel der Schul- und Hochschulbereich. Umwelt und soziale Gerechtigkeit sind sicher auch Themen, und zwar global gedacht.
BR.de: Und wer oder was sind die größten Einflussfaktoren?
Renner mit der Broschüre "wahl?weise!jung." Hinter dem Slogan versecken sich alle BJR-Aktivitäten im Wahljahr 2013.
Regina Renner: Es deutet sich an, dass das Elternhaus im Vergleich zu den Peer-Groups doch an Einfluss verliert. Das ganze kumuliert sich aber eher. Durch die Herkunft, durch den sozialen Status, den man durch das eigene Elternhaus hat, dadurch formieren sich dementsprechend auch die Peers. Wie ich das im Blick habe, ist, wie die Faktoren, Schule, Eltern und Peer-Groups zusammenwirken, noch nicht sehr stark erforscht. Alles spielt aber natürlich zusammen.
Sobald unter den Peers über Politik diskutiert wird, hat das sicher einen hohen Einfluss. Das passiert aber einfach nicht so häufig.
BR.de: Wird der Erstwähler gleich zum Stammwähler, oder ist er eher ein Wechselwähler?
Regina Renner: Bei Jugendlichen ist die Parteibindung in der Regel noch nicht sehr stark ausgeprägt. Damit hängt die Wahlentscheidung stärker von der Positionierung zu politischen Streitthemen und der Einschätzung der Kandidat/-innen ab und ist volatiler. Dies ist jedoch ebenfalls kein reines jugendspezifisches Phänomen, die Stammwählerschaft der Parteien ist generell geringer geworden, Parteibindungen haben sich stärker aufgelöst.
BR.de: Was investieren die Parteien in die doch relativ kleine Gruppe der Jungwähler?
Regina Renner: Die konkreten Strategien der Parteien kenne ich nicht. De facto spielen jugendpolitische Themen im Wahlkampf aber seltener eine Rolle, selbst der schul- und hochschulpolitische Bereich ist überraschend selten im Fokus der Wahlkampfdebatte. Er schwingt natürlich mit, aber Schwerpunkt ist er nicht. Der Jugendwahlkampf wird gerne an die Jugendorganisationen der Parteien abgegeben, Jugendpolitik fällt also meistens unter den Tisch.
Ein anderer Punkt, warum die Parteien nicht so stark in die Jugendpolitik investieren, könnte sein, dass man sich mit den falschen Themen dort auf lange Sicht auch Wähler vergraulen kann.
BR.de: Wie kommt es zur oft zitierten „Politikverdrossenheit“?
Regina Renner: Politiker werden heute kritischer wahrgenommen, gerade auch auf kommunaler Ebene. Es wird viel mehr Transparenz gefordert. Die Zustimmung zu den demokratischen Grundprinzipien ist weiterhin hoch. Die konkrete Ausgestaltung der Demokratie, die politischen Institutionen also oder die Akteure werden kritischer gesehen. Und haben faktisch weniger Zustimmung in der heutigen Zeit. Das kann auch daran liegen, dass die Jugendlichen sich mit ihren Themen nicht wahrgenommen fühlen. In den Parteien sind die Jugendlichen ja auch unterrepräsentiert.
Was aber generell neben der konventionellen Politikbeteiligung übersehen wird, sind andere Ausdrucksweisen, die Jugendliche haben. Kleidung, Musik, Graffiti sind Ausdrucksformen, in denen sehr häufig politische Botschaften und Meinungen mittransportiert werden.
BR.de: Wäre ein niedrigeres Wahlalter eine Chance, die Wahlbeteiligung wieder zu erhöhen?
Regina Renner: Es sollte generell früher damit angefangen werden, Jugendliche in die Gestaltung ihrer Lebensbereiche stärker einzubeziehen, zum Beispiel in der Schule. Das Ganze nicht Alibi-haft, sondern mit richtigem Mitspracherecht. Man muss Demokratie einfach miterleben und lernen, zum Beispiel in einem Aushandlungsprozess. Ein rein kognitiver Zugang reicht nicht aus.
Der Bayerische Jugendring fordert eine Wahlalter-Absenkung auf 14 Jahre. Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass bereits mit 12 Jahren ein Alter erreicht ist, in dem junge Menschen sozial und moralisch urteilsfähig sind und politische Entscheidungen treffen können. Natürlich fehlen Jugendlichen Erfahrung und Wissen. Aber was die kognitiven Kompetenzen betrifft, stehen sie Erwachsenen in nichts nach in diesem Alter. Ein so grundlegendes Recht wie die Teilnahme am wichtigsten demokratischen Element vorzuenthalten, dafür sehen wir keinen Grund - bei allen Wahlen. In der politischen Bildung sollten dann aber auch früh entsprechende Angebote gemacht werden, um zum Beispiel Wissenslücken zu kompensieren.
BR.de: Wie könnte es in Zukunft weitergehen?
Regina Renner: Gesamtgesellschaftliches Problem ist die vermeintliche Alternativlosigkeit. Viel Politik wird derzeit nicht mehr hinterfragt, meine ich. Es bleibt ja wenig Raum für die persönliche Entwicklung, wenn junge Menschen durch eine Leistungsgesellschaft geschleust werden. An den Hochschulen gehen die Beteiligungszahlen zum Beispiel zurück, sogar bei sehr interessanten UN-Projekten in New York.
Die Lebenssituation von Jugendlichen hat sich mit den zwei großen Bildungsreformen, G8 und Bologna-Prozess, enorm verändert. Was wir beobachten: Die Beteiligungsbereitschaft hat sich nicht verringert, wohl aber enorm verändert - hin zu gebündelter Partizipation ohne Regelmäßigkeit, eher zum Beispiel am Wochenende.
Ihr Plädoyer für den Wahl-O-Mat im Internet?
Regina Renner: Der Wahl-O-Mat für Bayern, den wir wieder zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung Bayern und der Bundeszentrale für politische Bildung betreuen, geht am 22. August online. Sein Riesenvorteil ist, dass er alle relevanten Themen zur Wahl spiegelt. Man kann seinen Standpunkt mit dem der Parteien vergleichen. Zusätzlich bekommt man Hintergrundinfos zu den politischen Themen, den Parteien und deren Standpunkten - ein Riesenbündel an Infos durch ein spielerisches Tool.
Die Parteien werden mit dem Wahl-O-Mat herausgefordert, konkrete Antworten zu formulieren. Ihre Wahlprogramme bekommt man für alle Politik- und Lebensbereiche derart komprimiert anderswo selten.