Neonazis und "Mein Kampf" Hitlers langer Schatten
Welche Bedeutung hat "Mein Kampf" eigentlich für die heutigen Neonazis? Keine allzu große, meint Rechtextremismus-Forscher Gideon Botsch im Interview mit Thies Marsen. Die Szene versuche, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten, scheitere aber immer wieder damit.
Der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusexperte rechnet nicht damit, dass die Neuedition von "Mein Kampf" eine große Bedeutung für die Neonazi-Szene in Deutschland hat.
"Mein Kampf kursiert in der Szene seit langem, man kriegt da nichts Neues, wie ein Weihnachtsgeschenk."
Gideon Botsch
Rechtsextreme Verlage hätten bisher noch nicht angekündigt, das Buch nach Ende des Copyright-Schutzes herausbringen zu wollen. Und es ist die große Frage, ob das für sie sinnvoll ist. "Mein KampF" sei nicht geeignet, am Markt "abzusahnen". Schließlich könne man davon ausgehen kann, dass der Inhalt dieses Buches relativ weit verbreitet ist.
Gideon Botsch
Auch in anderer Hinsicht seien die Vorteile für Rechtsextremisten eher gering: Es schade bestimmten einschlägigen Organisation in ihrem Bemühen, sozusagen aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und das Image „Wir sind keine Nationalsozialisten, sondern anständige Patrioten“ aufzubauen. Dieses Image wird eher beschädigt, wenn man zu sehr mit Hitler wirbt.
Der Trick mit den Häppchen
"Es ist kein Buch, das besonders gut geeignet ist, nationalsozialistische Weltanschauung und Ideologie zu verbreiten, weil es ja doch ein sehr sperriges Buch ist. Das haben schon die zeitgenössischen Propagandisten erkannt."
Gideon Botsch
Aus diesem Grund hätten sie es damals es in Häppchen dargebracht - in kleinen Sinnsprüchen, in Wochensprüchen, die dann übers Reich verbreitet wurden, in Kalendern und so weiter. Wenn jetzt ein Verlag diese Zitate nochmal aufbereite mit dem entsprechenden Bildmaterial, entsprechender Ästhetik und Layout, dann sei das was ganz anderes: "Dann haben wir durchaus Produkte, die sich in diesem Spektrum verkaufen lassen werden."
Verbreitet uninteressant
Auch wegen der großen Verbreitung sei "Mein Kampf" eher uninteressant für die Szene, sagt Botsch. Bis 1945 wurden nach offiziellen Angaben 12,4 Millionen Exemplare gedruckt und unter die Leute gebracht. Zudem kann jeder "Mein Kampf" aus dem Internet herunterladen. Auch auf Flohmärkten konnte man es immer kaufen.
"Vom Inhalt her ist es sehr verbreitet, aber werbewirksamer wirken doch andere Hitler-Auftritte, zum Beispiel theatralisch mit Musik untermalte Youtube-Mitschnitte von Reden und Auftritten Hitlers, die sehr leicht zu beschaffen sind. Oder eben diese kürzeren Zitate, die in der Naziszene, in der Neonaziszene bis heute sehr weite Verbreitung haben, meistens ohne Verfasserangaben, ohne Autorenangaben, wie Sinnsprüche, wie Wochensprüche."
Gideon Botsch
Nicht gefährlich, aber schwer zu ertragen
Die Gefahr, die von "mein Kampf" ausgeht, sollte nicht überschätzt werden, urteilt Botsch. "Aber das Buch enthält doch eine ganze Reihe von außerordentlich aggressiven, abwertenden, beleidigenden und ja auch bedrohenden, also zu Gewalt aufrufenden Passagen gegen verschiedene, von Hitler als Feindgruppen benannte Personenkreise, insbesondere natürlich die bekannten Vernichtungsaufrufe, die anderen beleidigenden Passagen gegenüber Juden."
"Insofern ist schon natürlich ein Skandal, wenn das jetzt auf Grabbeltischen von großen Discountern liegen sollte – das wäre schwer zu ertragen."
Gideon Botsch
Mythos Hitler?
Botsch zufolge nimmt das "rechtsextreme Lager immer weiter Abstand von einem Rückbezug auf eine historische Realgeschichte".
Stattdessen würden weiterhin Fantasiegeschichten erzählt. "Man löst sozusagen einzelne Elemente aus der Geschichte, die einem in den Kram passen, und erzählt eine neue Geschichte. Man erzählt zum Beispiel die Geschichte eines ständigen Kampfes des Judentums gegen Deutschland, des Judentums, das dann eben die Westmächte kontrolliert habe. Oder man macht aus dem Zweiten Weltkrieg einen Abwehrkampf gegen den Versuch, Deutschland niederzuwerfen. Und man erzählt dann weiter, dieser Kampf gehe eigentlich bis heute weiter, wir befänden uns in einer Kontinuität und der Zuzug von Ausländern ist genauso ein gesteuerter Prozess, Deutschland zu unterwandern, zu überfremden und zu zerstören."
"Das sind historisch völlig ungedeckte reine Fantasien."
Gideon Botsch
Hitlers langer Schatten
Trotz aller gegenteiliger Bemühungen kämen heute die AfD oder die Pegida-Bewegung von Hilter nicht los. Ein Beispiel sei Lutz Bachmann, wenn er mit Bildern posiert, die ihn als Hitler zeigen.
"Das ist eine Faszination, von der man tatsächlich nur sehr schwer loskommt und die den Erfolgsbedingungen, gerade rechtspopulistischer Parteien in Deutschland auch lange im Weg gestanden hat." Heutzutage finde man "im Umfeld der AfD wir vermehrt Anzeichen dafür, dass eine bisherige Zurückhaltung aufgegeben wird." Vereinzelt fände man immer wieder Äußerungen, die die historische Faktizität des Holocaust in Frage stellen.
"Auch die AfD, die sich sehr bemüht hat, diesen Hitler-Eindruck loszuwerden, kommt davon nicht ganz los. Und das liegt eben nicht nur an ihren Kritikern, die sagen: Ihr steht in dieser Tradition. Sondern es liegt eben auch daran, dass tatsächlich diese Tradition mitschwingt. Und das gilt für jeden deutschen Radikalnationalismus: Er kommt aus dem Schatten dieser Tradition nicht raus."
Gideon Botsch
Flexibler Faschismus
Demgegenüber sei harte Kern der Neonazis nicht unbedingt auf Hitler fixiert, sagt Bosch: "Die haben andere nationalsozialistische Ideologieschriften gelesen. Vor allem steht das rechtsextreme Lager in der Bundesrepublik in seinem Kernmilieu von Anfang an unter dem Einfluss von aktiven NS-Propagandisten. Das waren Reichsredner der NSDAP, hochrangige Hitlerjugendführer, Propagandaaktivisten der NSDAP und ihrer angeschlossenen Verbände, die hier reingewirkt haben ins rechtsextreme Spektrum und diese Ideologie weiterverbreitet, aber auch angepasst und soweit verändert haben, dass sie sozusagen flexibler zu handhaben ist."
Devotionale statt Bettlektüre
Der heutige Neonazi brauche Hitler nicht zu lesen. Im Zweifel reiches es, "Mein Kampf" als Devotionalie ins Regal zu stellen. "Er würde den Hitler über die rechtsextreme Musik, über die Neonazibands oder auch Liedermacher wie Frank Rennicke ins Wohnzimmer holen. Man hört dann eben diese Aussagen, diese Verherrlichung. Man muss das nicht unbedingt gelesen haben."
Botsch verspricht sich viel von der historisch-kritischen Ausgabe, "die dann tatsächlich auch Bezüge herstellt und Kontexte herstellt, kommentiert und einbettet. Die Neuedition werde von Wissenschaftlern mit Spannung erwartet."