Witwe des RAF-Opfers "Die Rechte der Opfer werden vernachlässigt"
Am 9. Juli 1986 ermordete die RAF den Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts in Straßlach bei München. Im Gespräch mit BR.de äußert sich seine Witwe Ina Beckurts zu ihrem Wunsch nach Aufklärung des Verbrechens.
BR.de: Frau Beckurts, wie gehen Sie heute mit der Tat um?
Ina Beckurts: Mich bedrückt, dass die Aufklärung ja offensichtlich keinen Schritt vorangekommen ist. Jedenfalls ist nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Hinweise wurden nicht überprüft oder sollen verschwunden sein. Mein Wunsch war immer: Kann man meiner Familie und mir nicht mal irgendetwas über den Stand der Ermittlungen sagen? Das Attentat war eine Wahnsinnsdetonation für mich und meine Familie und danach kam nie wieder etwas.
BR.de: Seit wann haben Sie und Ihr Mann damals eine akute Bedrohung wahrgenommen?
Ina Beckurts: Seit der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 wurden auch für uns die Vorsichtsmaßnahmen verstärkt. 1980 zogen wir nach Straßlach bei München. Wir hatten in mehreren Zimmern unseres Hauses Notruf-Knöpfe. Sie gewährleisteten eine direkte Alarmverbindung zur Polizei. Mein Mann hatte in den vier Monaten vor dem Attentat einen Begleitschutz zur Probe. Er war sehr skeptisch, ob absolute Sicherheit realisiert werden könnte. Er war der Ansicht, dass Terroristen nur seine Dienstzeiten beobachten müssten. Wenn er etwa nach Feierabend im Wald spazieren gegangen wäre, hätte man ihm dort auflauern können. Einen dauerhaften Begleitschutz lehnte er sogar ab.
Blutspur durch Bayern
BR.de: Wie haben Sie die Zeit nach dem Attentat erlebt?
Ina Beckurts: Tage- und wochenlang waren viele Polizisten in und um unser Haus stationiert. Einige von ihnen waren in der Nähe in Wohnwagen untergebracht. Fortwährend kreisten Hubschrauber dicht über uns. Es waren Tage des absoluten Wahnsinns. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr.
BR.de: Haben Sie nach dem Attentat überlegt, Deutschland zu verlassen?
Ina Beckurts: Für mich war es keine Option, ins Ausland zu gehen. Ich fühlte mich nicht persönlich bedroht. Stattdessen habe ich, wie alle in meiner Familie, das Leben in die Hand genommen und neu geregelt.
BR.de: Gehörte dazu auch, persönlich Einfluss auf das Ermittlungsverfahren zu nehmen?
Ina Beckurts: Ja. 1994 habe ich an Bundespräsident Roman Herzog geschrieben. In diesem Brief bat ich ihn, sich dafür einzusetzen, dass ich acht Jahre nach dem Attentat über den Stand der Ermittlungen informiert werde. Ich erhielt eine Antwort seines Büros, in der es hieß, dass man leider nichts wisse. Es gebe zwar einen Verdächtigen, den mutmaßlichen RAF-Terroristen Horst Ludwig Meyer. Doch man kenne seinen Aufenthaltsort nicht. Nachdem Meyer 1999 in Wien erschossen wurde, hieß es irgendwann, es sei nichts über weitere Untersuchungen in unserem Fall bekannt. Auch Meyers Lebensgefährtin Andrea Klump wurde festgenommen. Sie machte in ihrem Prozess ebenfalls keinerlei Aussagen, die zur Aufklärung der Straftaten beitrugen.
BR.de: Was wäre Ihre Forderung, um die Aufklärung voranzutreiben?
Ina Beckurts: Wichtig wäre mir, Akten, die in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vorhanden sind, einzusehen. Und zwar rechtzeitig, bevor sie vernichtet werden.
BR.de: Wieso sind diese Akten so wichtig?
Ina Beckurts: Es gibt viele Hinweise auf Zusammenhänge der RAF mit der Stasi, dem Geheimdienst der DDR. Das wird ja jetzt beim aktuellen Stammheim-Prozess gegen Verena Becker deutlich. Mein Mann und ich sind ja auch von der Stasi abgehört worden. Es ist ja nicht mal sicher, ob es überhaupt eine organisierte dritte Generation der RAF gab. Es gibt Theorien, dass Täter von der Stasi instrumentalisiert und möglicherweise mit Hubschraubern zu den jeweiligen Tatorten gebracht wurden. Alle fünf Mordanschläge der RAF zwischen 1985 und 1991 verliefen nach fast dem gleichen Muster. Sie wurden nicht aufgeklärt und zeugen von enormen logistischen Fähigkeiten und riesigem finanziellen Aufwand. Diesen Aufwand hätten die letzten versprengten RAF-Täter unmöglich alleine stemmen können.
Die 3. Generation der RAF
In den Jahren 1985 bis 1991 werden fünf Menschen von der RAF getötet: 1985 der MTU-Chef Ernst Zimmermann, 1986 Karl Heinz Beckurts und Gerold von Braunmühl, 1989 Alfred Herrhausen und 1991 Detlev Rohwedder. Diese Taten werden der sogenannten dritten Generation der Roten Armee Fraktion zugeordnet. Die Mitglieder dieser Generation sind weitgehend unbekannt. Als gesichert gilt lediglich, dass Wolfgang Grams, der 1993 in Bad Kleinen getötet wurde, und Birgit Hogefeld dazugehörten.
BR.de: Wie intensiv befassen Sie sich heute mit den Verbrechen der RAF?
Ina Beckurts: Sehr. Das Blog von Michael Buback über den Prozess gegen Verena Becker, der in Stuttgart läuft und bei der Frau Beckers Beteiligung an der Ermordung des früheren Generalbundesanwalts 1977 in Karlsruhe geklärt werden soll, verfolge ich intensiv. Ich kenne inzwischen alle Staatsanwälte und Verteidiger dieses Prozesses, aber auch sämtliche RAF-Terroristen mit Namen. Ich habe die journalistische Berichterstattung über die RAF zeitweise äußerst intensiv verfolgt. Ich habe Bücher und Texte von Historikern, Anwälten, Journalisten und Zeitzeugen gelesen. Außerdem war ich bei Podiumsdiskussionen, Seminaren und Talkrunden. Mein Ziel war es, die Leute kennenzulernen, die mehr wissen müssen über die Taten, und zu beobachten, was und wie sie nichts sagen. Ich bin fast 80 Jahre alt. Manchmal frage ich mich, wieso ich dies alles tun muss. Ich will aber versuchen, etwas herauszufinden, weil es sonst niemand tut.
BR.de: Ende Juni 2011 wurde Birgit Hogefeld, die letzte inhaftierte RAF-Terroristin, auf Bewährung entlassen. Hogefeld gilt als Führungsperson der dritten Generation der RAF. Sie soll sich vom Terrorismus distanziert haben, zu den Taten schweigt sie. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler lehnte es noch 2010 ab, Hogefeld zu begnadigen. Wie bewerten Sie die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt zur Freilassung auf Bewährung?
Ina Beckurts: Mich beunruhigt nicht, was die Medien über Hogefeld schreiben. Mir ist es ziemlich gleichgültig, was sie nach ihrer Freilassung tut. Sie soll ja seit Jahren studieren, will jetzt auch promovieren. Sie bekommt sicher eine Wohnung, einen Job, Hartz IV oder eine Rente. Für sie ist alles geregelt. Aber reden soll sie!
BR.de: Bei einer der letzten RAF-Entlassungen hatten Sie sich ja noch deutlicher zu Wort gemeldet.
Ina Beckurts: Vor der Entlassung Christian Klars habe ich den Bundespräsidenten Horst Köhler gebeten, die Begnadigung davon abhängig zu machen, ob Klar Aussagen macht, die zur Aufklärung der RAF-Verbrechen beitragen. Ich schrieb, es wäre mir klar, dass dies eine ungeheuer schwierige Aufgabe für einen Bundespräsidenten sei. Daraufhin erhielt ich ein kurzes Schreiben seines Büros: Meine Forderung sei nicht Teil des Begnadigungsaktes und zudem juristisch nicht zulässig. Ich habe das Gefühl, dass für die Rechte der Täter juristisch alles getan wird. Die Rechte der Opfer werden dagegen vernachlässigt.
BR.de: Haben Sie sich deshalb auch an die Justiz gewandt?
Ina Beckurts: Ja, und zwar an die Generalbundesanwälte Kay Nehm und Monika Harms. 2008 kamen zwei Beamte des Bundeskriminalamtes zu mir. Sie wollten mich noch einmal nach Beobachtungen fragen, an die ich mich nach 22 Jahren noch erinnerte. Ich erinnerte mich beispielsweise an einen weißen Transporter. Das meldeten wir damals auch der Polizei. Dieser hatte vor dem Attentat öfters nachts in der Nähe unseres Hauses geparkt. Jemand saß auch in dem Fahrzeug. Dies und anderes stand nicht in der Akte oder wurde angeblich schon gelöscht. Es war lediglich festgehalten worden, dass man mir in den Stunden nach dem Attentat eine Visitenkarte gegeben habe. Darauf stand ein Kontakt, bei dem ich mich doch hätte melden können, wenn mir noch etwas eingefallen sei. Ich hatte den Eindruck, den Ermittlern war gar nicht klar, wie es in einer Familie in den ersten Stunden nach so einem Mord aussieht. Die Karte hatte ich dabei wohl übersehen und vergessen. Wir vertrauten darauf, dass sich die zuständigen Behörden um Aufklärung bemühen.
BR.de: Wie bewerten Sie Filme über die RAF wie "Der Baader-Meinhof-Komplex" nach dem Buch von Stefan Aust?
Ina Beckurts: Wenn über die Fälle, in denen Urteile gefallen sind, und die Täter, die mittlerweile wieder frei sind, Filme gedreht werden, so schaffen sie im besten Fall historische Aufklärung. Die Opferangehörigen fühlen sich aber verhöhnt, wenn Sensationsheischerei, Blut, Feuer, Knallerei und Geschrei einen Film dominieren. Das war so im "Baader-Meinhof-Komplex". Jugendliche, die sonst lieber Thriller sehen, sagten, nachdem sie den Film gesehen haben, das sei "klasse Action".
BR.de: Haben Sie Kontakt zu anderen Angehörigen von RAF-Opfern?
Ja. Unter anderem stehe ich in Kontakt zu Corinna Ponto, der Tochter des von der RAF ermordeten Bankvorstands Jürgen Ponto, und Michael Buback, dem Sohn des ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Wir sprechen uns gelegentlich. Der Fall Buback ist aber extrem anders als mein Fall. Er hat einen falsch abgeurteilten Fall, der noch einmal aufgerollt wird. Er weiß gewissermaßen, in welches Haus er gehen muss. Ich weiß nicht einmal, in welcher Straße mein Haus steht.
BR.de: Sie sind Ehrenmitglied der Karl Heinz Beckurts-Stiftung. Was ist die Aufgabe dieser Stiftung?
Ina Beckurts: Sie fördert die Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Dieses Leitmotiv entspricht dem Berufsweg meines ermordeten Mannes. Er hat den Großteil seines Berufslebens der Wissenschaft gewidmet. Er hat aber auch die Notwendigkeit einer Kooperation mit der Wirtschaft erkannt. In seinen letzten sechs Lebensjahren hatte er Verantwortung für den Vorstandsbereich Forschung bei Siemens.
Der Karl Heinz Beckurts-Preis wird jährlich vergeben für wissenschaftliche Innovationen, die industriell umgesetzt werden können. Außerdem vergibt die Stiftung Preise für naturwissenschaftliche Lehrer. Ausgezeichnet werden Pädagogen, die ihre Schüler vorbildlich motivieren und fördern. Die Ziele meines Mannes wurden bewahrt. Die prämierten Inhalte aber sind Innovationen, die er nicht mehr erleben durfte.
BR.de: Frau Beckurts, wir danken für das Gespräch.