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Türkei nach dem Putschversuch Mehr als 6.000 Menschen verhaftet

Auf den Putschversuch folgt die Verhaftungswelle. Die türkische Regierung hat bislang rund 6.000 Menschen festgenommen: darunter mehr als 2.700 Richter, darunter Verfassungsrichter sowie weit mehr als 2.800 Militärangehörige. Erdogan-Anhänger feierten bis in den Morgen hinein.

Von: Wolfgang Landmesser

Stand: 17.07.2016 |Bildnachweis

Türkei nach dem Putsch | Bild: picture-alliance/dpa

Alles wieder unter Kontrolle, überall in der Türkei hat die Regierung nach eigenen Angaben die Macht zurückerobert. In mehreren Städten, unter anderem auf dem Taskim-Platz in Istanbul, gab es Siegesfeiern von vielen tausend Erdogan-Anhängern. Sie skandierten den Namen ihres Präsidenten, hielten Erdogan-Bilder in die Höhe und schwenkten türkische Fahnen. In einer Rede forderte Präsident Recep Tayyip Erdogan von US-Präsident Barack Obama die Auslieferung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Der Erzfeind des türkischen Präsidenten lebt im Exil in den USA. Erdogan machte die Bewegung des Predigers für den Putschversuch verantwortlich.

"Übergeben Sie uns diese Person in Pennsylvania!"

Präsident Recep Tayyip Erdogan

Wenn die USA wirklich ein Partner der Türkei seien, müssten sie dieser Aufforderung nachkommen. Die Türkei liefere schließlich ihrerseits Terroristen an die USA aus.

Tausende Regierungskritiker werden verhaftet

Die von Erdogan nach dem Putschversuch angekündigte Säuberungsaktion ist unterdessen in vollem Gange. CNN Turk berichtete über die Festnahme von zwei Verfassungsrichtern. Davor waren bereits zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Angehörige des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte festgenommen worden. Gegen 140 Richter sind laut türkischen Medien Haftbefehle ergangen, Büros und Wohnungen der Beschuldigten seien durchsucht worden. 2.700 Richter wurden abgesetzt, fast ein Fünftel der Richter des Landes.

Laut dem Chef der Richtergewerkschaft Mustafa Karadag handelt es sich bei ihnen nicht nur um mutmaßliche Unterstützer des Putsches, sondern auch unbeteiligte Kritiker Erdogans.

Bereits in der Nacht zum Samstag, also kurz nach Beginn der Gewalt, hatte Erdogan angekündigt, gegen die Hintermänner vorzugehen. Den Umsturzversuch bezeichnete er als "Segen Gottes", weil er die Gelegenheit biete, die Armee von Regierungsgegnern zu säubern. Die Regierung hat nach eigenen Angaben mehr als 2.800 am Putschversuch beteiligte Militärs festnehmen lassen. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim beschrieb das Vorgehen der Regierung gegen die Aufständischen gestern so.

"Es gibt viele von ihnen. Sie wurden vom Dienst suspendiert, andere sind verhaftet worden. Einige werden wir noch festnehmen, nach ihnen wird gefahndet. Jedenfalls haben wir fast alle Drahtzieher in Gewahrsam genommen. Die Dinge sind unter Kontrolle."

Ministerpräsident Binali Yildirim

Der islamische Prediger hat den Vorwurf, hinter dem Putsch zu stecken, zurückgewiesen und den Versuch scharf verurteilt. Ministerpräsident Yildirim unterstrich Erdogans Forderung nach Gülens Auslieferung mit den Worten, jedes Land, das Gülen unterstütze, werde als im Kriegszustand mit der Türkei betrachtet. Kerry erklärte, die USA seien bereit, der Türkei dabei zu helfen, die Verantwortlichen für den Putschversuch ausfindig zu machen. Die Vereinigten Staaten würden aber nur dann Maßnahmen ergreifen, wenn es Beweise gegen Gülen gebe.

Bei den Kämpfen in der Nacht zum Samstag kamen laut Yildirim 265 Menschen ums Leben, unter ihnen mehr als 100 Putschisten. Mehr als 1.100 Menschen wurden verletzt.

Kämpfe bis zum Morgen

Am Freitagabend hatte das Drama begonnen: Die Putschisten, die vor allem aus den Reihen der Luftwaffe und der Panzerverbände kamen hatten die Macht im ganzen Land für sich reklamiert. Kampfflugzeuge flogen über Ankara. Militärfahrzeuge blockierten Brücken in Istanbul. In Istanbul kam es am Taksim-Platz zu einem Feuergefecht zwischen Polizei und Soldaten, Medien meldeten darüber hinaus Schüsse auf demonstrierende Putschgegner an der Bosporus-Brücke.

Am frühen Samstagmorgen jedoch drehte sich die Situation: Kampfjets griffen Panzer der Putschisten an, die am Präsidentenpalast in Ankara aufgefahren waren. Erdogan hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Urlaub am Mittelmeer abgebrochen und wurde in Istanbul von jubelnden Anhängern erwartet.

Reaktion aus Berlin

Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte den Putschversuch scharf und forderte ein Ende des Blutvergießens. Zugleich rief sie die türkische Regierung zu einem rechtsstaatlichen Umgang mit den Putschisten auf. Gerade im Umgang mit den Verantwortlichen für die tragischen Ereignisse der letzten Nacht sollte sich der Rechtsstaat beweisen, sagte sie. An alle Deutschen, die sich in der Türkei aufhalten, appellierte Merkel, sich umsichtig zu verhalten und auf die aktuellen Hinweise des Auswärtigen Amtes zu achten.

Informationen für Urlauber

Das Auswärtige Amt hat seine Reisehinweise für die Türkei aktualisiert. Es schreibt jetzt: "Reisenden in Istanbul und Ankara wird bis zur vollständigen Klärung der Lage weiterhin zu äußerster Vorsicht geraten. Dies gilt insbesondere auf öffentlichen Plätzen für Menschenansammlungen. Im Zweifelsfall wird geraten, in sichere Wohnungen und Hotels zurückzukehren und die Medienberichterstattung sowie diese Reise- und Sicherheitshinweise aufmerksam zu verfolgen." Viele Fluggesellschaften haben Flüge nach Istanbul und Ankara gestrichen, in die Urlaubsregionen im Süden und Westen der Türkei wird aber weiter geflogen. Die Lufthansa will am Sonntag den normalen Flugbetrieb in die Türkei wieder aufnehmen. Grundsätzlich sollten sich Urlauber rechtzeitig bei ihren Gesellschaften oder Veranstaltern informieren. Etliche Reiseunternehmen bieten auch eine kostenlose Umbuchung oder Stornierung an.







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Mustafa Kemal Pascha (1881-1938), genannt Atatürk, Sonntag, 17.Juli 2016, 10:43 Uhr

5.

(Gründer u. 1. Präsident d. modernen Türkei)
Die ganzen Opportunisten in der westlichen Welt, ob Merkel, Steinmeier, Özdemir, Schulz, Juncker, Obama usw. sollten sich stark zurückhalten. Schon zu Erdogans Zeit als Ministerpräsident unter Präsident Gül wurden Meinungs- u. Pressefreiheit immer weiter eingeschränkt. Erdogans Ziehvater u. islamistischer Präsident Erbakan wurde 1997 durch das Militär entmachtet.
Nun der gescheiterte Putsch, wenn es einer war. So dilettantistisch wie er ausgeführt wurde u. mit so wenigen Putschisten, könnte es auch eine vom Geheimdienst eingefädelte Intrige sein. Genau in diesem Moment baut Erdogan knallhart seine Diktatur weiter aus u. festigt sie. Es wurden 3000 (!) Richter entlassen bzw. festgenommen, unter ihnen 10 Mitglieder des Staatsrats (eines der höchsten Gerichte) u. einer der beiden Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts. Aber die westlichen Politiker jubeln u. reden von Wiederherstellung der Demokratie u. Einhaltung der Verfassung. Gehts noch?

  • Antwort von Mustafa Kemal Pascha (1881-1938), genannt Atatürk, Sonntag, 17.Juli, 12:19 Uhr anzeigen

Rhein, Sonntag, 17.Juli 2016, 09:58 Uhr

4. Reaktionsgeschwindigkeit auf Putsch

So schnell und gezielt, wie Erdogan reagiert, Richter weg, Staatsanwälte weg..., das passt alles sehr genau. Man könnte sich schon vorstellen - einen "Putsch" kann man auch anzetteln.

  • Antwort von Bernhard, Sonntag, 17.Juli, 10:31 Uhr anzeigen

  • Antwort von B.Blatt, Sonntag, 17.Juli, 11:17 Uhr anzeigen

  • Antwort von Cosi, Sonntag, 17.Juli, 13:14 Uhr anzeigen

  • Antwort von US-Freund, Sonntag, 17.Juli, 13:14 Uhr anzeigen

  • Antwort von D-Freund, Sonntag, 17.Juli, 14:06 Uhr anzeigen

  • Antwort von klarsteller, Montag, 18.Juli, 09:05 Uhr anzeigen

birkhahn, Sonntag, 17.Juli 2016, 09:45 Uhr

3. Erdogan

Erdogan braucht die Nato nicht, aber die Nato braucht Erdogan. Deshalb kann Erdogan machen. was er will. Und genau das tut er!

Thomas Stehle, Sonntag, 17.Juli 2016, 09:39 Uhr

2. Putsch in einer Diktatur

Ein Putsch in einer Diktatur, was ist da so schlimm? Das müsste doch der "normalen westlichen Welt Hoffnug geben, oder nicht?

  • Antwort von Bronner, Heinz, Sonntag, 17.Juli, 10:33 Uhr anzeigen

Ste, Sonntag, 17.Juli 2016, 08:56 Uhr

1. Oh mei....

...so ein schönes Schauspiel des Despoten....und die ganze Welt spielt mit.
Und den Türken ausserhalb der Türkei die so fleissig demonstieren "für ihr Land" sei gesagt:
Wenns Euer Land is, dann geht dorthin. Und was ist dann mein Land für Euch??
Ein zu islamisierender Spielplatz??

  • Antwort von Jo, Sonntag, 17.Juli, 10:36 Uhr anzeigen