Wolfgang Koeppen Die Bücher im Kopf
Als Verleger von Koeppen musste man vor allem eines mitbringen: Geduld. Siegfried Unseld, Suhrkamps Meister der Zunft, hatte offenbar so viel davon, dass heutige Effizienzmoralisten darüber nur den Kopf schütteln würden. Als Koeppen um 1960 herum, schon renommiert, einen neuen Verlag suchte, standen die Bewerber bei ihm Schlange - vor allem, da Koeppen 1956 einen weiteren großen Roman angekündigt hatte und mit drei Reisebüchern (1958, 1959, 1961) sehr erfolgreich war.
Suhrkamp hat das Rennen gemacht - aber um den Preis, warten lernen zu müssen. Am 1. Januar 1961 unterschrieb Koeppen bei dem Verlag, zur Herbst-Buchmesse sollte der neue Roman (Arbeitstitel: "Die Scherzhaften") erscheinen.
"Ich muss Sie bitten, noch ein Jahr zu warten"
Doch im Mai desselben Jahres bekam Unseld einen Brief, in dem Koeppen schrieb: "Verzeihen Sie mir, ich will endlich in Ruhe arbeiten, ich muss Sie bitten, noch ein Jahr zu warten." Mitteilungen dieser Art sollte Unseld im Verlauf der langjährigen Korrespondenz mit dem Autor noch öfter erhalten. Koeppen lieferte in jenem Brief vom Mai auch eine Begründung für seine Produktions-Verzögerung mit: "Das Erscheinen des Romans ist für mich wichtig. Nicht für Sie."
"Ich bin herzlich, herzlich verzweifelt, Ihr Wolfgang Koeppen"
Schlussgruß eines Briefes an den Verleger Siegfried Unseld von 1967, als Koeppen wieder einmal einen 'Abgabetermin' verstreichen ließ.
"Sie sind stärker als Sie wissen!"
Antwort von Unseld
Unseld musste die leidvolle Erfahrung machen, dass sich Koeppen, der von sich behauptete, dass bei ihm "mehr als bei anderen der normale Kontakt zur bürgerlichen Existenz geschwächt" sei, herzlich wenig um marktwirtschaftliche Produktionsmechanismen scherte. Leidvoll waren diese wiederum auch für Koeppen, der die Schriftstellerei zu seinem "Brotberuf" machte und doch sehr unter dem Druck litt, der daraus erwuchs.
Dennoch hätte er nie des Einkommens wegen etwas veröffentlicht, mit dem er selbst nicht hundertprozentig zufrieden gewesen wäre. Unseld brachte viel Verständnis für den Autor auf, von dem er aber auch wusste, dass er zu den Talentiertesten seines Verlages zählte - und ließ ihm immer wieder Vorschüsse überweisen, vermutlich ahnend, dass er keine neuen Zeilen als Gegengabe dafür erhalten würde.
Literatur im Kopf, nicht auf dem Papier
Als Entschuldigung für Schreibblockaden führte Koeppen ganz alltägliche Probleme wie Krankheiten, Wohnungssorgen oder Alkoholausfälle seiner Ehefrau an. In einem Brief an Unseld vom August 1961 schob Koeppen aber noch eine weitere Erklärung für das vorläufige Scheitern seines geplanten Werkes "Die Scherzhaften" nach:
"Ich fing in Panik an, einen Roman meines Unbehagens zu schreiben. Dieser kleine Roman 'Theseus, fast nichts' entwickelte sich und verführte."
Damit formulierte er eine Grundproblematik seines Schaffens: die vielen Bücher in seinem Kopf. Arbeitete er an einem Projekt, beschäftigte ihn in hindernder Art und Weise bereits das nächste, wie er auch 1980 in einem Gespräch mit dem Literatur-Journalisten Volker Hage einräumte.
Der vollendete Unvollendete
Hage war einer der wenigen Gäste in Koeppens Münchner Wohnung, in der der Schriftsteller zurückgezogen mit seiner Frau lebte. Beim Anblick der im Arbeitszimmer turmhoch aufgestapelten Mappen und Manuskripte war jedem Besucher sofort klar, dass dort durchaus viel gearbeitet wurde, auch wenn das in Verlagsprospekten nicht sichtbar wurde. Doch ein ähnliches Schicksal wie den "Scherzhaften" war auch weiteren Roman-Torsos beschieden: So blieb 1969 das Projekt "Ein Maskenball" über den Kennedy-Mord ebenso unerledigt wie "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs" zu Beginn der 1970er-Jahre.
Davon existiert im Greifswalder Koeppen-Archiv ein umfangreiches Konvolut aus 520 Blättern. Im wesentlichen handelt es sich dabei um Gliederungsentwürfe und Stoffsammlungen zu einem kompliziert angelegten Berlin-Panorama, das sich von der Preußen-Ära über die Weimarer Republik und die Verwüstungen der Nazi-Zeit bis in die zweigeteilte Nachkriegsstadt spannen sollte.
Ende der 1970er-Jahre gab Koeppen seinem Verleger das Versprechen für einen neuen Text: "Tasso oder Die Disproportion". Er konnte ihn aber ebenso wenig realisieren wie später die Vorhaben "Traumreise", "Das Schiff" oder "30 Tage oder das unerreichte Petra". Letztlich war dem Suhrkamp-Verlag in den 35 Jahren der Zusammenarbeit mit Koeppen nur ein neues Buch vergönnt: 1976 kam der schmale Band "Jugend" heraus, der im Entwurf noch den Zusatz "Fragment einer Fiktion" trug. Das Fragmentarische war Programm bei Koeppen: "Ich glaube nicht recht, und zwar nicht nur für mich, sondern für jeden, der heute schreibt, an die Möglichkeit, des wirklich fertigen, des wirklich abgeschlossenen Werkes."
Koeppen meinte damit nicht nur die unabgeschlossene Erzählung, sondern formulierte auch die Einsicht, dass der Autor lebenslang einer Fiktion vom fertigen Text hinterherjagt. Auch Koeppen wurde zum Vertreter des "offenen Kunstwerks", um einen Buchtitel von Umberto Eco zu zitieren.
Nach "Jugend" erschienen noch einige Sammelbände bereits publizierter Texte. Das lange Warten auf Koeppens großen Wurf war vergebens. Als er 1996 starb, musste seine Literatur-interessierte Nachwelt ernüchtert feststellen, dass einer der wichtigsten deutschen Prosa-Schriftsteller seinen letzten Roman 1954 veröffentlicht hatte.