Wolfgang Koeppen Der Modernisierer
Wenn ein Schriftsteller wie Koeppen, selbst wenn er nicht von Schreibhemmungen geplagt ist, nicht Bücher am Fließband produzieren kann, hat das auch mit der formalen Gestaltung der Texte zu tun.
Koeppen hatte sich vorgenommen, die deutsche Nachkriegsliteratur auf den Stand der Moderne zu bringen. Das hieß bei Koeppen: kein souveräner Ich- oder Er-Erzähler mehr, Montage-Technik, verschiedene Sprachebenen, kurz: die Zersplitterung des konventionellen Romans.
Innerer Monolog und Collage
Koeppen beschritt einen anderen Weg als die Vertreter der so genannten "Trümmerliteratur". Deren Vertreter, Heinrich Böll zum Beispiel, nahmen sich die amerikanische Shortstory à la Hemingway mit ihrer verknappten Sprache zum Vorbild.
Koeppen dagegen verlegte sich mehr auf den inneren Monolog, ein Verfahren, das spätestens bei James Joyces "Ulysses" (1922) in die assoziative Aneinanderreihung von Gedankenbruchstücken mündete. "Bewusstseinsstrom" bezeichnete die Literaturwissenschaft das.
Koeppen ließ sich auch von der Collage-Technik des modernen Großstadtromans beeinflussen, von dem der Amerikaner John Dos Passos 1925 mit "Manhattan Transfer" den Archetyp geliefert und der mit Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929) bis dahin nur ein einziges bedeutendes Echo in der deutschen Literatur gefunden hatte.
Momentaufnahmen
Ein zweites legte Koeppen 1951 mit "Tauben im Gras" nach. Ähnlich wie Dos Passos konzentriert er sich nicht auf nur einen, zwei oder drei Protagonisten, sondern zerlegt den Roman in viele kurze Erzählsequenzen und montiert die Handlungsstränge von etwa 30 Personen simultan übereinander. Damit entsteht ein Kaleidoskop mit Momentaufnahmen: vom gescheiterten Schriftsteller über amerikanische GIs, "german Fräuleins" und Kriegsgewinnlern bis hin zu unverdrossenen Nazis. Die mentale und psychologische Verfassung dieses Personals ist dabei zum Teil derart ruinös wie der Ort des Geschehens: das zerstörte Nachkriegs-München. Stichwort Nazi: Koeppen gehörte von Anfang nicht zur Mehrheit der Deutschen, die sich den Stunde-Null-Mythos der Adenauer-Ära gern gefallen lassen mochte.
Koeppen, der von 1933 bis 1938 ins niederländische Exil gegangen war und sich von 1943 bis 1945 am Starnberger See versteckt hatte, um nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden, staunte eigenem Bekunden zufolge nach Kriegsende, wie viele Deutsche plötzlich den "Anti-Nazi" mimten.
Finger in der Wunde
Dass die NS-Ideologie in der Bundesrepublik bruchlos und mehr oder wenig untergründig weiterexistieren konnte, das zeigte Koeppen auch im folgenden Roman "Das Treibhaus", vor allem aber in "Der Tod in Rom" von 1954. Darin versucht ein früherer SS-General, nach Kriegsende zunächst in Südamerika abgetaucht, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Ob es ihm gelungen wäre, bleibt offen, da er stirbt. Als verhinderter Steigbügelhalter fungiert ein hoher Ex-NS-Parteigenosse, der sich nun als CDU-Bürgermeister schadlos hält. Das Publikum reagierte auf die Roman-Trilogie zum Teil begeistert, zum Teil verstört, zum Teil aber auch - wen wundert's - gereizt-aggressiv.
Danach produzierte Koeppen weniger Explosives: Radio-Essays über seine Reisen in den 1950er-Jahren, die auch in Form von drei Büchern erschienen: "Nach Russland und anderswohin" (1958), "Amerikafahrt" (1959) und "Reisen nach Frankreich" (1961).
"Ich habe nie ein Buch von mir gelesen. Ich kann mich nicht lesen, ich mag mich nicht lesen. Mein Text wäre mir zu unheimlich, zu nah und zu fern."
Wolfgang Koeppen
Das erinnerte Ich
Und danach erschien erstmal gar nichts mehr. Doch in seinem Arbeitszimmer gärte die formale Innovation weiter: "Manchmal möchte ich etwas ganz Neues versuchen, das Bild aus lauter Punkten zusammenfügen, etwa Beschreibung einer Steinstufe, Schilderung eines Auges und so fort, anscheinend ohne Zusammenhang, aber auf diese Weise fast unmerklich den Roman erzählen."
Koeppen experimentierte weiter mit dem Roman. Er fragte sich: Soll man die Geschichte von mehreren "Ichs" erzählen lassen? Oder aus dem "Du" heraus erzählen, wie es der französische "nouveau roman" eines Michel Butor vorexerzierte? Aus solchen Überlegungen resultierte 1976 "Jugend".
Koeppen selbst beschrieb das Buch, das einem einzigen, etwa 150 Seiten langen, Interpunktionsregeln kaum gehorchenden Sprachfluss gleicht, so: "Es sind Vorstellungen und Träume meiner Kindheit und Jugend kurz vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Es sind Lebensdaten aus Beobachtung, Angst und Verwunderung. Es könnte ein Bericht über und für einen Fremden sein, eine Autobiographie geschrieben in das Leben eines anderen, eine Ich-Verschleierung, ein Versteck in vielen Figuren."
Bis zuletzt verweigerte er sich der konventionellen Prosaform. Bis zuletzt verweigerte sich Koeppen, der von Leuten, die ihn kannten, als höflich, wach, sensibel und keineswegs verbittert beschrieben wurde, auch einer optimistisch-versöhnlichen Grundhaltung. Passend dazu auch der Titel seiner Autobiografie: "Nein. Wolfgang Koeppen. Mein Leben." Zu mehr als dem Titel kam er allerdings nicht mehr.