Kriegsende 1945 | KZ-Befreiung (5) Der Schock danach
Mit der Befreiung der Konzentrationslager sahen amerikanische, britische oder russische Soldaten zum ersten Mal mit eigenen Augen das ganze Ausmaß der Nazi-Gräuel. Die Militärs trafen nicht nur jubelnde Überlebende an, sondern fanden in den Lagerkrematorien Berge von nackten toten Körpern.
Bergen-Belsen, Buchenwald, Flossenbürg oder Dachau - die SS hatte es schlicht und einfach nicht mehr geschafft, vor dem Eintreffen der Alliierten alle Leichen der toten KZ-Häftlinge zu verbrennen oder zu vergraben.
Grauenhafte Funde
In Dachau entdeckten die GIs einen abgestellten Zug mit 40 Güterwaggons - voll mit toten Gefangenen. Es handelte sich um einen Transport aus Buchenwald, der bereits vor Tagen angekommen war. Wer nicht bereits unterwegs gestorben war, kam in den verriegelten und voll gepferchten Waggons auf dem Abstellgleis in Dachau um. Als die Amerikaner die Türen öffneten, befanden sich unter den etwa 2.000 Leichen noch ein paar Handvoll Lebende. Sie konnten nicht mehr gerettet werden. Im Krematorium stießen US-Soldaten auf zwei Räume: einen mit penibel, zwei Meter hoch übereinander gestapelten nackten Leichen und einen zweiten mit 2.000 wild durcheinander geworfenen toten Körpern. Tausende weitere Tote lagen verstreut im Lagergelände. Beißender Leichengeruch stieg den Soldaten in die Nase.
"Ich bin niemals imstande gewesen, die Gefühle zu schildern, die mich überkamen als ich zum ersten Mal ein so unbeschreibliches Zeugnis für die Unmenschlichkeit der Nazis vor Augen hatte ... Nichts hat mich so erschüttert wie dieser Anblick."
US-General Dwight D. Eisenhower
Weinende GIs
Die meisten der in Dachau und Flossenbürg einrückenden amerikanischen Soldaten gehörten zu kampferprobten Truppen, die so leicht nichts mehr erschüttern konnte. Doch beim Anblick der ausgemergelten Leichen in den Krematorien und Güterzügen waren selbst sie derart schockiert, dass viele in Tränen ausbrachen oder sich übergeben mussten. In Dachau lagen so viele Tote herum, dass es eine Woche dauerte, alle Leichen abzutransportieren.
Lynch- und Rachejustiz
Andere GIs verloren beim Anblick der vielen Leichen die Fassung und erschossen im Lager übriggebliebene SS-Leute, auch die mit erhobenen Händen. 37 solcher Fälle sind belegt. Ein US-Gefreiter erinnerte sich später an die Entdeckung des Güterzugs: "Nachdem wir dies gesehen hatten, gingen wir weiter vor, kochend vor Wut, halb von Sinnen." Diese Exzesse waren zwar Kriegsverbrechen, wurden aber von US-Militärgerichten nicht geahndet. Etwa ein Dutzend früherer Wachen oder Kapos fiel auch der unmittelbaren Rachejustiz ehemaliger Häftlinge zum Opfer, die ihre Peiniger zu Tode prügelten, steinigten oder mit amerikanischen Waffen erschossen.
Das Sterben geht weiter
Nach der Befreiung der KZs standen die Amerikaner vor einer noch größeren Herausforderung. Für sie begann in den Lagern Flossenbürg und Dachau eine Arbeit, auf die sie nicht vorbereitet waren: die Überlebenden mussten versorgt werden. Tausende rangen immer noch mit dem Tod, in Dachau waren zwei Drittel der mehr als 30.000 Ex-Häftlinge siech und entkräftet. Auch nach der Befreiung grassierten im Lager die tödlichen Seuchen Typhus und Fleckfieber. Die US-Ärzte ordneten Quarantäne und Desinfektion an. Die meisten der Überlebenden konnten wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden, aber für viele kamen die Retter zu spät: Im Lager Dachau erlagen nach der Befreiung mehr als 2.300 Häftlinge ihrer Schwäche und ihren Krankheiten. Im Mai 1945 mussten täglich zwischen 100 und 300 Tote bestattet werden.
"Das Ende des Lagers ist noch lange nicht das Ende des Sterbens."
Jorge Semprun, spanischer KZ-Häftling, späterer Schriftsteller
Freiheit - aber nicht sofort
In Dachau riefen die Amerikaner nach der Befreiung des KZs die "autonome Republik Dachau unter amerikanischem Protektorat" aus. Diesen Status behielt das Gelände sechs Wochen lang, bis zur Abreise der letzten der Ex-Häftlinge. Bis es so weit war, standen diese unter einem strengen US-Regiment. Zunächst durften sie das Gelände des ehemaligen Lagers nicht ohne Genehmigung verlassen. Wer diese Anordnung missachtete, konnte erschossen werden. Für die Amerikaner gab es gute Gründe, die Häftlinge nicht sofort aus dem ehemaligen Lager zu lassen. Abgesehen von der Reiseuntauglichkeit vieler galt es auch zu vermeiden, dass sich Typhus und Fleckfieber in den jeweiligen Heimatländern ausbreiteten. Neben einer Reihe weiterer Vorbehalte musste in vielen Fällen zudem erst geklärt werden, wohin man die Gefangenen entlässt (Repatriierungsfrage): Beispielsweise konnte man Franco-Gegner nicht nach Spanien zurückschicken; doch Ende Mai hatten die meisten Ex-Häftlinge das Lager verlassen.
Lektion für die Deutschen
Die US-Besatzer konnten kaum glauben, dass die Bevölkerung in der Umgebung der KZs nach eigener Darstellung von den Gräueltaten der Nazis nichts gewusst haben wollte. Um dem Wegsehen ein Ende zu bereiten, konfrontierten US-Befehlshaber die Einheimischen mit denselben Schreckensbildern, vor denen auch jene bei der Befeiung standen. Bürger aus Dachau, aus Flossenbürg, aus den Orten der Außenlager wurden in die ehemaligen KZs geschickt: der unfassbare Anblick der Opfer sollte dem Volk der Täter nicht erspart bleiben.
US-Kommandanten ordneten deutschen Zivilisten an, die von der SS ermordeten und in KZs gestapelten oder in Wäldern oder Feldern verscharrten KZ-Häftlinge zu exhumieren. An Dutzenden von Fundorten in ganz Bayern mussten die Einheimischen die meist nackten Leichen in Tücher wickeln und würdevoll in Gräbern bestatten. Auf dem so genannten "Leitenberg" nördlich von Dachau ließen die Amerikaner etwa 2.000 Tote begraben. Später machte man auf diesem Hügel eine furchtbare Entdeckung (siehe nebenstehende Bildergalerie).
Leichenberg "Leitenberg"
"Dantes Inferno schien blass gegen die reale Hölle von Dachau."
Felix Sparks, Colonel der 45. Infanterie-Division der 7. US-Armee, nach der Befreiung des KZs