Am Abend aller Tage Statement Dominik Graf: "Wem gehört die Kunst?"
Die Idee kam von BR-Redakteurin Claudia Simionescu. Den Drehbuchautor Markus Busch, Claudia Simionescu und mich faszinierte der Fall jenes Münchner Kunsthändlers, der jahrzehntelang ein gewaltiges Erbe mit ungeheuren historischen Bilder-Mengen beherbergt hatte. Der Staat hatte zugeschlagen, hatte alles beschlagnahmt. Aber viel interessanter als das öffentliche Gekreisch zum Thema „Raubkunst“, das sich sofort nach Ruchbarwerden der Sachlage erhob, erschien uns die Bemerkung des Kunsthändlers in einem Interview: „Ich habe doch nur mit meinen Bildern leben wollen.“
Die eigentlich schon sehr alte Idee, dass man Kunst vor ihrer massenhaften Betrachtung – ebenso wie vor ihrem unsachgemäßen Besitz – beschützen muss, kommt einem ja im Augenblick geradezu täglich immer weniger grotesk vor. Die große Gleichmacherei hat den Blick der Massen auf Kunst zum allein geltenden Maßstab gemacht. Was die Massen langweilt, was sie nicht schön finden, was sie nicht verstehen, woran sie vorbeigehen, das verliert in den Augen der Öffentlichkeit an Wert. Den Werken, um die es ja eigentlich geht, wird durch Kunstmarkt-Umtriebe, endlose kulturelle Debatten voller Plattitüden und Klischees nachgerade täglich ein Stück ihrer Aura, ihrer Geheimnisse genommen.
Auch darum geht es in der Henry James-Novelle „Die Aspern Papiere“, in denen ein junger Literaturfan der greisen Geliebten eines verstorbenen englischen Autorengenies dessen private Briefe abluchsen will. Er schleicht sich in den kleinen Haushalt in einem venezianischen Palazzo ein, zu dem auch die Nichte der todkranken Dame gehört, ein zurückgezogen lebendes, nicht mehr junges Mädchen. Die alte Dame lässt ihn abblitzen, also muss er die Nichte becircen, um an die ersehnten Dokumente zu gelangen. Aber er muss dafür bezahlen…
Kunst gehört nicht „jedem“, sie kann nicht von jedem hergestellt und sie kann auch nicht von jedem beurteilt oder verstanden werden. Selbst Museen sind mitunter Orte der totalen Nivellierung, der Beliebigkeit eines erstarrten Kunstkanons. Die Figur unseres Kunsthändlers im Film ist kein wunderlicher Kauz, sondern er ist einer, der Werke nicht den Erben der Maler, nicht den Käufern und auch nicht deren Erben, nicht den Millionären und eben auch nicht den Museen überlassen will. Sondern nur denen, die sie gemalt haben – die natürlich großteils nicht mehr unter uns sind – und denen, die – so wie er – sie vor ihrer täglichen Herabwürdigung beschützen werden. Es gibt ja auch viele grandiose Arten von Kunst, die im Tsunami der Kulturgüter missachtet werden. Also sollten sie alle aus Liebe am besten versteckt werden und so lange verborgen bleiben bis vielleicht ein anderes Zeitalter anbricht.
Filmen geht es ähnlich. In den Katakomben von Paris fand sich vor etwa zehn Jahren bei Bauten an der Metro ein geheimes Kino, in dem seltene Filme vor auserwähltem Publikum liefen. Die Initiatoren dieses unterirdischen Filmclubs nannten sich „Les Mexicaines des Perforations“. Und noch ein Fall: Der Sohn des großen Regisseurs Jean Eustache verbietet beharrlich seit Jahrzehnten, dass die bahnbrechenden Werke seines Vaters (am berühmtesten „Die Mama und die Hure“ von 1973, 217 Minuten) auf DVD gequetscht werden, weil er durch die unendliche Reproduktion eine Entwertung ihrer Bedeutung befürchtet. Hier spielt auch noch das Vater-Sohn-Problem eine Rolle, die psychologische „Verpflichtung“, die posthume Verwaltung des Erbes. Das führt direkt zurück zum Kunsthändler aus Schwabing.
Weil Henry James‘ „Aspern-Papiere“ auch noch jene merkwürdig kathartische Liebesgeschichte für den ungeduldigen, gierigen Helden in petto haben – deshalb schien diese Novelle die ideale Ausgangsposition, um über die Frage „Wem gehört die Kunst?“ zu erzählen.
Dominik Graf, April 2017