Tatort Franken: "Wo ist Mike?" Doppelinterview Dagmar Manzel und Sylvester Groth
Worum geht es im aktuellen Tatort Franken „Wo ist Mike?“?
Dagmar Manzel: Das Thema „Vernachlässigung von Kindern“ spielt eine Rolle. Manche Kinder leben in einer Welt, in der ihre Bedürfnisse nicht von den Eltern erkannt und schon gar nicht geteilt werden. Diese Form von alleingelassen werden, obwohl man als Kind noch gar nicht in der Lage ist, das Leben zu erfassen, führt zu panischen Reaktionen, die dann in einer Katastrophe enden können.
Sylvester Groth: Der Film erzählt sehr schön, dass man im Zentrum unserer Gesellschaft, der Familie, nachsehen muss, was passiert. Denn sonst entstehen Kollateralschäden. Zum Beispiel, dass Menschen aus Desinteresse oder Eigeninteresse beschädigt werden. Wie bei den beiden Schülern, die Rolf bezichtigen. Es geht in "Wo ist Mike?" zudem um Vertrauen, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung und darum, dass man miteinander reden und nicht in Menschen und Situationen Falsches projizieren sollte. Dadurch entstehen Missverständnisse, und diese erzeugen Unglück. Der Film kommt, denke ich, zur rechten Zeit, denn es geht um Rufmord, der Leben zerstören kann. Wenn Falschinformationen erst einmal in der Welt sind, kann man sie heutzutage fast nicht mehr zurücknehmen und widerlegen.
Dagmar Manzel, wir sehen Paula Ringelhahn privat wie nie. Sie verliebt sich in einen Lehrer, der zum Hauptverdächtigen im aktuellen Fall wird. Wie war es für Sie, die Zerrissenheit zwischen Liebesglück und professioneller Verantwortung darzustellen?
Dagmar Manzel: Es ist das erste Mal für Paula, dass sie sich derartig verliebt. Sie kommt, so wie sie ihr Leben bisher gestaltete, eigentlich gut zurecht. Und sie gerät nun in den schrecklichen Konflikt, dass sie die Beziehung nicht aufgeben möchte und auf der anderen Seite berufliche Verantwortung trägt. Sylvester hat es richtig gesagt: Anstatt miteinander zu reden, werden erst einmal Vermutungen angestellt. Sie hat gar keine Zeit, sich mit ihrer frischen Beziehung auseinanderzusetzen. Sie schraubt sich sofort zurück und entscheidet, dass das Privatleben unwichtig ist, bis der Fall geklärt ist. Sie merkt zu spät, was die Situation mit ihr macht, und dass sie so das nötige Vertrauen für eine Beziehung verspielt. Der Konflikt ist, dass sie alles für den Beruf zurückstellt und dann begreift, dass der Beruf nicht alles ist. Dass das kurze Glück, das sie hatte, ebenso schnell wieder verschwunden ist.
Sylvester Groth: An der Leichtigkeit der Liebesszene merkt man, dass beiden etwas passiert, womit sie nicht gerechnet haben. Dass sie sich plötzlich aufmachen: Es ist ja auch sehr albern, was sie da machen und sehr liebenswert. Sie sind glücklich, die Situation gefällt ihnen, und sie würden am liebsten den Moment anhalten. Paula kann loslassen, blüht auf und man merkt was für eine tolle, charmante Frau sie ist.
Dagmar Manzel, mit Ihrem Liederabend „Sehnsucht“ in der Komischen Oper Berlin feierten Sie die Melancholie als Lebenselixier und zeigten die Sehnsucht in ihren vielfältigen Facetten. Ist Paula Ringelhahn eine melancholische Person und was sind ihre Sehnsüchte?
Dagmar Manzel: Mein Lieblingszitat von Emil Cioran ist: "In einer Welt ohne Melancholie würden die Nachtigallen anfangen zu rülpsen." Die Melancholie existiert auch für Paula, aber sie ist jemand, der pragmatisch ist und im Hier und Jetzt lebt. Eine Person, die sich selbst immer hintenanstellt, nicht darüber nachdenkt, was für sie gut wäre oder nicht. Je älter man wird, umso schwerer kann man Liebe vielleicht zulassen. Dann schützt man sich umso mehr vor Verletzungen – genau so macht es Paula.
Sylvester Groth: Ich halte Paula für eine sehr empfindsame Frau, die in ihrem Beruf mit brutalen Erlebnissen konfrontiert wird. Sie ist aber auch sehr patent und regelt die Dinge.
Sylvester Groth, Sie spielen einen Lehrer, der von seinen Schülern wegen angeblicher Belästigung angezeigt wird und der, bevor die Vorfälle geklärt werden können, vorverurteilt wird. Wie war es für Sie, diese Rolle zu spielen? Denken Sie, dass wir, auch bedingt durch Soziale Medien, in unserer Gesellschaft ein Problem mit vorschnellen Meinungen über andere haben?
Sylvester Groth: In sozialen Medien werden oft aus Empfindungen heraus Behauptungen aufgestellt, hinter denen man dann verschwinden kann. Es findet nicht wie im echten Leben eine persönliche Auseinandersetzung statt. Jemand wird an den Pranger gestellt, das ist verheerend, da wir keine Außendefinition und Gegenargumente zulassen. Über den indirekten Weg des Schreibens teilt man seine Meinung mit, muss sich dann aber nicht damit auseinandersetzen oder die Konsequenzen bedenken. Es wäre wichtig, den Kindern bereits in der Schule – aber auch den Eltern – den richtigen Umgang mit diesem Thema beizubringen.
Dagmar Manzel: Schlimmer ist es noch, wenn es Kinder betrifft, die beschuldigt werden, ohne sich wehren zu können. In der Pubertät kann da eine Welt zusammenbrechen. Der Film zeigt eine Form der Denunziation, bei der der andere keine Chance mehr hat. Selbst wenn Rolf eine Plattform hätte, sich zu verteidigen, die Nachricht ist schon draußen! Die Aufgabe von Paula ist es dabei, zu klären, was wirklich passiert ist. Den Schaden abwenden kann aber niemand mehr.
Sylvester Groth: Wie geht Ihre Rollenfigur Rolf damit um, dass die Frau, die er liebt, gleichzeitig die Ermittlerin in einem Fall ist, in dem er zum Hauptverdächtigen wird?
Sylvester Groth: Er hat anfangs kein Problem, da er ja noch nicht weiß, dass er zum Hauptverdächtigen der Ermittlungen wird. Auch wenn der Kollege an der Tür klingelt, und er erfährt, dass Paula Kommissarin ist. Dann ist er tief enttäuscht. Er kann auch nicht raus aus seiner Haut, da er auch ein misstrauischer Mensch ist. Er ist, denke ich, sehr vom Leben gezeichnet. Und denkt sich, schon wieder! In seinem Umfeld wird es häufiger passieren, dass Lehrer beschuldigt werden, weil Schüler oder Eltern unzufrieden sind. Er weiß, dass die Geschichte immer zwischen Paula und ihm stehen wird, wenn sie erst mal in der Welt ist. Bei der nächsten Gelegenheit wird bei Paula dieser Verdacht wieder aufkommen. Sie bemüht sich ja, sie sagt sich, dass sie diesen Menschen ja anders kennengelernt hat. Aber, wie wir wissen, schlummern auch viele Abgründe in Menschen. Sie erschrickt ja auch über sich selbst, dass sie in diese Falle tappt und sich dem nicht erwehren kann. Das Misstrauen kann schnell überhandnehmen, sodass eine Beziehung zerstört wird. Rolfs Leben ist jedenfalls total beschädigt. Der Film zeigt die Möglichkeiten dessen, was das bei ihm auslösen könnte.
Die Geschichte zwischen den beiden hat eine extreme Fallhöhe…
Sylvester Groth: Das ist realistisch bei Denunziationen, es bricht alles zusammen – von einer Sekunde auf die andere. Es ist wichtig, das zu zeigen.
Dagmar Manzel: In dem Moment, als es an der Tür klingelt, ist alles vorbei…
Dagmar Manzel und Sylvester Groth, Sie sind beide in der ehemaligen DDR aufgewachsen und sind künstlerische Wegbegleiter. Woher kennen Sie sich, und haben Sie bereits vor dem Tatort-Dreh gemeinsam gearbeitet?
Dagmar Manzel: Das ist unser zweiter Film. Unser erster gemeinsamer Film war "Fronturlaub" von Bernd Böhlich, da waren wir beide 20 Jahre alt. Wir haben aber auch zusammen Theater gespielt. Leider viel zu selten. Es hat sich einfach nicht ergeben.
Sylvester Groth: Wir decken sehr unterschiedliche Bereiche ab. Sie ist eine wunderbare Frau und spielt andere Rollen. Die Freundschaft hat seit dem Studium gehalten. Weil man sich sehr gut kennt und schätzt, überlegt man sehr genau, welche Rollen man gemeinsam spielt.
Sylvester Groth, Sie sagen über Dagmar Manzel, dass sie ihre Figuren strahlen lässt, dies sei faszinierend zu sehen, weil sie immer überrascht und ihre Figuren immer lebendig sind. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit ihr beim Dreh von "Wo ist Mike?" erlebt?
Sylvester Groth: Auf der Bühne ist Dagmar wirklich die Königin – sie ist großartig! Da sitzt man davor und denkt: "Wie macht sie das?". Auf der Bühne würde ich nur danebenstehen und zusehen, was sie alles aus sich herausholt. Das ist wahnsinnig, und sie kann auch noch singen! Ich kann nicht einmal singen, aber ich übe. Dass wir beide viel voneinander wissen, war klar. Aber wir wussten nicht, wie der gemeinsame Dreh werden wird.
Dagmar Manzel: Er stapelt immer tief, was ihn sehr sympathisch macht. Ich schätze dich sehr, Sylvester, du bist für mich einer der außergewöhnlichsten Schauspieler! Ich war sehr neugierig, aber ich wusste eins: Wenn er eine Rolle annimmt, dann will er sie spielen, ansonsten macht er es nicht. Andreas Kleinert kennt uns ja auch seit vielen Jahren. Wir sind mit ihm sehr befreundet. Er und Drehbuchautor Thomas Wendrich wussten, für wen sie schreiben. Ich habe mich unglaublich darüber gefreut, mit Sylvester endlich wieder zu spielen und es war eine unbeschreiblich intensive und schöne Zeit. Es war immer schnell klar, was wir wollten, dann haben wir uns nur fallengelassen und zusammen gespielt.
Wie war die Zusammenarbeit mit Regisseur Andreas Kleinert?
Dagmar Manzel: Andreas Kleinert liebt seine Schauspieler, und er schreibt und inszeniert für sie. Er lässt einem auch viel Freiraum. Es war sehr vertraut, ich war zuhause in dem Moment, in dem wir begonnen haben zu spielen.
Sylvester Groth: Andreas Kleinert bringt dem Zuschauer die Themen behutsam nahe, ohne ihn zu bevormunden. Er zeigt alles differenziert und feiner, das große Ganze bleibt dennoch durch die Drehbuchdramaturgie erhalten. Er weiß, was das Interessante ist, das ein Schauspieler besitzt, und wie es die Rolle dadurch reicher macht.