Bayern 1 - BAYERN 1 am Vormittag

"Diese Regierung hat keine Peilung"

Peer Steinbrück im Interview "Diese Regierung hat keine Peilung"

Stand: 13.09.2013

Ulla Müller und Peer Steinbrück | Bild: BR/Andreas Schoelzel

Er war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Er saß schon auf der Regierungsbank – als Finanzminister in der 2. Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel. Er drehte zwei Extra-Runden in der Schule. Er kennt sich nicht nur im politischen Haushalt aus und stieg aufs eigene Dach. Am 22. September will Peer Steinbrück Kanzler werden.

Der SPD-Spitzenkandidat möchte dabei auf keinen Fall Steigbügelhalter für eine weitere Legislaturperiode von Merkel sein. Seine Absicht: "Das Land gestalten", wie er im exklusiven BR-Interview mit Bayern 1-Moderatorin Ulla Müller und Roman Roell von BAYERN 3 sagt.

Herr, Steinbrück, warum schaffen Sie es nicht, Angela Merkel zu beweisen, dass ihre vergangen vier Jahre nicht so glorreich waren, wie Sie immer behaupten? Geht es Deutschland einfach zu gut?

Deutschland ist ein starkes Land und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geht es uns auch gut. Doch das ist nicht das vollständige Bild. Das vollständige Bild ist, dass Millionen Menschen unter 8,50 Euro pro Stunde verdienen; dass Frauen nicht den gleichen Lohn bekommen wie Männer; dass der Niedriglohnsektor weiter wächst. Das Bildungssystem ist nicht so durchlässig, wie es sein müsste, und die Infrastruktur verfällt. Viele Bürgerinnen und Bürger haben zunehmend das Gefühl, dass sie die Dummen sind und für die Zockerei haften, also für die Risikoignoranz von Banken. Die Frage ist nun: welche Strömung sich bei der Bundestagswahl durchsetzt? Aber das wissen wir erst mit der zweiten oder dritten Hochrechnung.

Fehlt es nicht an den großen emotionalen Reibungspunkten, die die Menschen auch emotional mobilisieren?

Es gibt nicht mehr das eine große Thema wie beispielsweise 1969, als eine wirtschaftspolitische Debatte geführt wurde. Die D-Mark-Aufwertung. Oder 1972 die Ostpolitik. Oder 1980 die klare Konfrontation Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt. Aber ich teile nicht die Auffassung, dass Menschen nicht von Zukunftsthemen und Zukunftsängsten bewegt werden. Das spielt bei meinen Wahlkampfveranstaltungen eine genauso große Rolle wie die nach der Pflege und der Vermeidung von Altersarmut. Bei Jugendlichen spielt eine Rolle, wie sicher gehe ich in ein Berufsleben, wenn ich von einem Werksvertrag in den nächsten purzel. Will man da wirklich erwarten, dass diese Jugendlichen Kinder in die Welt setzen, bei solch unsicheren Perspektiven? Eine andere Frage ist die der Mietentwicklung. Einige aus München wissen, wovon ich rede.

Wer soll das alles finanzieren. Aktuell schaut es so aus, als wenn nur besser verdienende Menschen aufkommen müssen. Inwieweit werden denn internationale Konzerne daran beteiligt, die sich derzeit noch in Deutschland arm rechnen können?

Das erste Thema sind die sogenannten Besserverdienenden. Nun legen wir mal die Karten auf den Tisch. In den letzten zehn Jahren haben sich die privaten Vermögen auf zehn Billionen Euro verdoppelt - und die Gewinner waren die oberen fünf Prozent der Einkommensbezieher. Da wollen wir mal nicht so tun, als ob da die Verarmung droht oder die kalte sozialistische Hand, die da irgendwo reingreift.

Das sind die Horrorbilder, die die Konservativen und die Liberalen malen, nach dem Motto "wir führen Euch in die Geisterbahn, wo Euch der kalte Sozialismus anspringt." Das sind die Gewinner und sie dürfen auch zur Finanzierung für vier wichtige Aufgaben herangezogen werden - für Bildung, für Infrastruktur, für Kommunen und für den Schuldenabbau. Das ist die Steuerpolitik der SPD. Im Vergleich dazu machen CDU / CSU Wahlkampfversprechen für die es keine Gegenfinanzierung gibt.

Was den zweiten Punkt betrifft, gebe ich Ihnen Recht. Wir haben es mit großen internationalen, grenzüberschreitenden Konzernen zu tun, bei denen bei manchen die effektive Unternehmensbesteuerung unter zehn Prozent liegt. Das ist ein Problem, das sehr ehrgeizig aufgegriffen werden muss, aber auf der europäischen Ebene zu lösen ist.

Sie betonen, dass Ihre Chance die Nichtwähler sind. Das sollen Ihrer Ansicht nach über 30 Prozent sein und die möchten Sie gern in der "Wartehalle" abholen. Aber wo ist denn diese Halle? Was ist, wenn die am Wahltag gar nicht da sind, weil sie sich von der Politik bereits verabschiedet haben?

Das wissen wir erst am Wahltag. Wogegen ich mich wehre, ist die Neigung, in der vier Wochen vor der Wahl bereits Kommentare das Ergebnis vorwegnehmen. Wieso eigentlich? Wir wissen doch erst, ob Menschen sich entscheiden, in eine Wahlkabine zu gehen, wenn wir das Ergebnis vorliegen haben. Meine Wahrnehmung ist nicht die eines lähmenden Wahlkampfs. Nicht die Bohne. Ich will gar nicht euphorisch werden. Aber die Leute sind daran interessiert, politische Themen zu erörtern.

Ob und wie sich das ausdrückt, wissen wir erst dann. Die schlechte Nachricht für die SPD ist, dass wir zwischen 1998 und 2009 zehn Millionen Wähler verloren haben. Die gute ist, dass es viele sind, die schon einmal SPD gewählt haben und die man vielleicht auch mit unseren Themen erreichen kann - und das vor dem Hintergrund, dass diese Bundesregierung keine Richtung hat, keine Peilung. Frau Merkel fährt gern Kreisverkehr.

Stinkt Ihnen eigentlich, dass die Union Themen klaut - wie Mindestlohn oder Mietpreisbremse?

Die CDU klaut uns keine Themen. Entschuldigen Sie bitte. Die Mietpreisbremse, die Frau Merkel in der Öffentlichkeit so tönern vertreten hat, [war] immer mit dem Hinweis, dass sei ja ein ganz guter Hinweis der SPD. Nur: Da müssen Sie bedenken, dass die CDU Ende Juni im Bundestag gegen die Mietpreisbremse gestimmt hat. Dasselbe ist das Gerede von einer Lohnuntergrenze. Da muss man den Menschen bitten, in die Schachtel der CDU reinzuschauen, um zu sehen, was da drinnen ist. Das ist kein flächendeckender Mindestlohn. Das ist ein Flickenteppich von Branche zu Branche, Region zu Region und viele, die in einem Tarifvertrag sind, der unter 8,50 Euro liegt, schauen in die Röhre.

Ist es nicht das Ergebnis davon, dass viele politische Parteien immer im Block stimmen und nicht an der politischen Sache interessiert sind? Aber es kann natürlich passieren, wenn die SPD in Regierungsverantwortung ist, dass ein guter Unionsvorschlag einfach abgeblockt wird.

Aber das ist doch nicht in der Öffentlichkeit akzeptabel, wenn Frau Merkel versucht, zu blenden mit einer Mietpreisprobe und dann kommt die Nagelprobe und dann stimmt sie und die gesamte CDU/CSU dagegen. Dafür habe ich auch drastischere Ausdrücke. Das ist Täuschung. Das ist Politik der Anscheinserfüllung. Denn wenn es darauf ankommt, dann wird gekniffen. Diese Regierung ist eine in ihren Ankündigungen folgenlose Regierung.

Das klingt nach Konfrontation und nicht nach Möglichkeiten für eine große Koalition. Wir haben unsere Hörer gefragt und viele E-Mails bekommen, die gesagt haben, dass es ihre Pflicht wäre, wenn es das Wahlergebnis verlangt, eine solche Koalition mitzutragen.

SPD-Spitzenkandidat im Interview mit Ulla Müller und Roman Roell.

Es werden aber Parteien und keine Koalitionen gewählt, natürlich anhand des Wahlergebnisses. Ich für meinen Teil habe gesagt, dass ich nicht nochmal in eine große Koalition gehe. Wir waren damals - wie ich finde - nicht der personell schlechtere Teil und sind dann aber mit 23 Prozent auf die Bretter gegangen. Das hat die SPD ins Mark getroffen. Wir sind aber nicht nochmal Steigbügelhalter für Frau Merkel, die ja gern eine weitere Periode ihrer Liebe mit der FDP haben möchte. Übrigens die fast schon nostalgische bewegte Lust nach einer großen Koalition ist fast schon ein Hinweis, dass die jetzige Regierung schlechte Noten bekommt.

Klingt nach einem "Nein" ohne Kompromiss.

Bei allem Respekt für die Hörer. Ich habe mit meiner Nominierung angekündigt, dass ich nicht nochmal der Juniorpartner von Frau Merkel in der großen Koalition bin, und ich gehöre nicht zu denjenigen, die dann typischen politischen Opportunismus hinlegen und dann lavieren. Wer mich wählt, soll wissen woran er ist.

Was setzt ein Kanzler Peer Steinbrück um, die SPD-Beschlüsse oder das, was Sie vorhaben?

Das was sozial gerecht und gleichzeitig ökonomisch sinnvoll ist. Zum Beispiel ein flächendeckender Mindestlohn, zum Beispiel die Gleichbezahlung von Männern und Frauen. Oder das aus meiner Sicht völlig idiotische Betreuungsgeld auf Druck der CSU [abzuschaffen] - stattdessen Investitionen in Kitas und frühkindliche Bildung.

Wie schätzen Sie Horst Seehofer und Christian Ude ein?

Beide haben bayerisches Temperament und beide sind des Wortes mächtig. Ich kenne Herrn Seehofer aus der Bundesregierung und auch die letzten Wendemanöver mit der PKW-Maut für Ausländer. Der Mann scheint mir nicht sehr verlässlich und er wechselt seine Positionen, dass man Mühe hat, zu zuschauen. Im Übrigen vergackeiert er gerade die bayerische und deutsche Bevölkerung mit dieser PKW-Maut.

Gibt es eigentlich unter Ihnen eine PKW-Maut?

Nein natürlich nicht. Alle Sachkundigen wissen auch, dass Herr Seehofer nur eine PKW-Maut für Ausländer einführen kann, wenn er gleichzeitig eine PKW-Maut für Inländer einführt. Wenn er dann sagt, dafür erspare ich euch die Kraftfahrzeugsteuer. Dann müsste er ungefähr sieben Milliarden Euro durch eine Autobahnvignette ersetzen. Dann müssen Sie als Golf- und Corsa-Fahrer ungefähr 60,60 Euro mehr bezahlen. Warum? Weil ihre KFZ-Steuer 80 Euro liegt aber die Vignette 163 Euro kostet. Und die, die die dicken Autos fahren, die bezahlen nur noch die Hälfte. Denn die zahlen dann nicht mehr 400 Euro sondern auch nur 163 Euro. Das bietet Ihnen Herr Seehofer. Gute Reise!

Sie gelten als der Mann der gern für Gerechtigkeit steht, der Klartext spricht. Trotzdem finden manche unserer Hörer, dass ausländische Autofahrer unsere Autobahnen nutzen und gar nichts bezahlen. Gibt es da gar keine Möglichkeit?

Da gibt es dann Autobahnabschnitte, für die gezahlt wird wie auch in Italien. Aber das dann für alle.

Es herrscht aber Einigkeit darüber, unser Straßennetz zu modernisieren und zu reparieren. Wo würden Sie das Geld dafür hernehmen?

Wir sind zusammen mit den Grünen die Partei, die manche Steuern für einige erhöhen möchte. Da haben mir manche gesagt, du bist verrückt geworden, das in einem Bundestagswahlkampf zu sagen. Aber damit sind wir ehrlicher als CDU/CSU - und ein Teil davon soll auch in die Infrastruktur gehen

Sprechen wir nicht nur über Politik, sondern auch über den Menschen Peer Steinbrück. Wie nahe ist Ihnen eigentlich die Erpressung mit der Beschäftigung der Putzfrau gegangen?

Ich mache keinen Hehl daraus, dass meine Familie darüber völlig entnervt ist und es auch meiner Vorstellungskraft nicht entspricht. Ansonsten müssen Sie sich gegen solche Angriffe wehren und die beste Methode ist es, offenzulegen und Strafanzeige zu stellen. Genau das haben wir gemacht.

Aber weh tun muss das doch trotzdem?

Ich hatte ein Gespräch mit den beiden Altbundeskanzlern Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Da haben wir auch darüber gesprochen. Gerhard Schröder hat einfach gesagt, es ist die wichtigste Eigenschaft eines Kandidat: Nerven, Nerven, Nerven.

Gerhard Schröder war der Basta-Kanzler, Sie sind der Klartext-Kandidat. Das ist ihr großer Trumpf, dass Sie authentisch sind. Doch im Wahlkampf wird Ihnen genau das vorgeworfen. Wie sehr müssen Sie sich verstellen?

Das ist die Widersprüchlichkeit Ihrer Branche, des Journalismus. Da habe ich einiges erlebt. Das ist mir sehr bewusst. Ich glaube, die Bürger würden Schauspielerei sehr schnell mitbekommen und kritisieren. Sie wollen nicht, dass Politiker sich verstellen. Sie wollen wissen, woran sie sind, und sie wollen auch wissen, was die Politiker wollen. Jemand der sich einer "politischen Geschlechtsumwandlung" unterzieht, verliert deutlich an Glaubwürdigkeit.

Ihre Frau steht im Alltag ihre Frau - aber umgekehrt, stehen Sie zuhause Ihren Mann?

Ich will jetzt nicht angeben. Als ich noch ein bisschen mehr Zeit hatte, war ich ein durchschnittlicher Handwerker. Mein Vater und andere haben mir beigebracht, auch handwerklich einiges in Gang zu bringen. Einmal habe ich ein ganzes Dach ausgebaut. Übrigens mit großer Freude, weil man sieht, was die Hände alles bringen können.

Wenn Sie einen Tag nur für sich hätten, was würden Sie machen?

Ich würde sehr viel Lesen, mir einen Schachpartner suchen und mit meiner Frau reisen. Es gibt so wahnsinnig viele Landschaften, von denen ich glaube, dass man diese noch besuchen sollte.

Vielen Dank für das Gespräch