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Bodo Kirchhoff "Widerfahrnis"

Das Leben schien schon fast für ihn vorbei zu sein, da tritt eines Nachts Leonie Palm in das Leben des 64-jährigen Ex-Kleinstverlegers Julius Reither. Bodo Kirchhoff ist mit der heiter beschwingten Liebesgeschichte Kandidat für den Deutschen Buchpreis.

Von: Jochen Rack

Stand: 15.09.2016

Buchtipp: Widerfahrnis (Bodo Kirchhoff) | Bild: Frankfurter Verlagsanstalt;Montage BR

"Widerfahrnis" - der Titel des neuen Buches von Bodo Kirchhoff stimmt den Leser auf ein tragisches Geschehen ein: Etwas wird seinem vierundsechzigjährigen Protagonisten, dem ehemaligen Kleinstverleger und Buchladenbesitzer Julius Reither widerfahren, der sich nach Aufgabe seines Frankfurter Geschäftes vereinsamt in ein Altersdomizil im oberen Weissachtal zurückgezogen hat, wo er über sein berufliches Scheitern und eine lange vergangene unglückliche Liebe nachdenkt. In einer Nacht, als er gerade eine Flasche Rotwein aufmacht, klopft gewissermaßen das Schicksal an seine Tür, und vor ihm steht eine andere Bewohnerin des Seniorenheims, die schöne Leonie Palm, Hutmacherin von Beruf und, wie sich bald herausstellen wird, Autorin eines Buches, in dem sie vom Tod ihrer Tochter erzählt. Ein Leidensgenosse ist Reither für Leonie deshalb, weil auch er gewissermaßen eine Tochter verloren hat: von seiner einstigen Partnerin Christine trennte er sich, als diese im dritten Monat schwanger war und drängte sie zu einer Abtreibung. Das ist der düstere biografische Hintergrund, vor dem sich nun unerwartet eine heiter-beschwingte Liebesgeschichte entwickelt.

Späte Liebe, großes Glück

Bodo Kirchhoff schickt seine Protagonisten auf eine Italienreise, in der sie noch einmal das Glück der Liebe erleben. Noch in der Nacht, als Leonie an Reithers Tür klopft, brechen die beiden, die sich gar nicht kennen, mit dem Auto ins Blaue hinein auf – ein eher märchenhafter, als psychologisch plausibler Auftakt der Erzählung, den man Kirchhoff aber gerne zugesteht, denn schließlich handelt es sich bei seinem Buch um eine Novelle, für die ein wunderbares  Ereignis durchaus typisch ist. Und das Wunderbare ist auch in Kirchhoffs Sprache gegenwärtig, mit der er die Geschichte der langsamen Annäherung zwischen Leonie und Reither auf zartfühlende Weise erzählt. Als Reither nach einer Nacht, in der er neben Leonie im Auto übernachtet hat, aufwacht

"stemmte er sich auf und sah seine Mitreisende, die noch schlief, den Kopf leicht zur Seite gedreht, ihm entgegen, und wenn es in dem Moment einen Schrecken gab – sich im Auto neben einer Frau wiederzufinden, die er kaum kannte, neben einem fremden Gesicht, wie man sagt -, dann war es höchstens der Schrecken, dass nichts von diesem Gesicht ausging, das fremd war. Ja im Gegenteil, er erkannte etwas wieder, das sich schon fast verflüchtigt hatte, nur noch in Spuren existierte, wie die frühen Zeichen, dass man zu Hause war, der Duft des Bügeleisens auf besprengter Wäsche, das Licht einer Stehlampe mit Faltenschirm, das Knacken aus den Heizrohren und ein Geraschel beim Zeitungsblättern, hinter der Zeitung Zigarettendunst und das mütterliche Sonntagsseufzen."

Bodo Kirchhoff in Widerfahrniss

Empfindsame Reflektiertheit

Als ehemaliger Verleger, dem viele Manuskripte durch die Hände gingen, hat Reither – gewissermaßen als déformation professionelle - ein geschärftes Sprachbewusstsein und denkt daher die ganze Zeit darüber nach, ob die von ihm zur Beschreibung seiner Gefühle und Wahrnehmungen benutzte Sprache auch angemessen ist – eine plausible psychologische Begründung für Bodo Kirchhoffs literarischen Stil, in dem Empfindsamkeit und Reflektiertheit zwanglos ineinander gehen. Der erste Kuss, zu dem es schließlich auf der Italienreise kommt, als das Paar schon Catania erreicht und eine Ferienwohnung bezogen hat, hört sich dann so an:

"Und er legte einen Finger auf den Spalt zwischen den Lippen, was heißen sollte, reden wir besser morgen und schlafen jetzt, einen Finger der Vernunft, den Leonie Palm erst küsste und danach sachte anhob und wegschob, und auch wenn sie ihn nur angehoben hätte und sachte beiseite geschoben, wäre es wohl um ihn geschehen gewesen – ein Ausdruck, den er früher mit drei Fragezeichen versehen hätte, ebenso Worte wie unfassbar, paradiesisch oder Gnade. Aber den Kopf seiner Mitbewohnerin zu küssen … und von ihr …zurückgeküsst zu werden, war unfassbar und auch paradiesisch, eben eine Gnade, die ihn gerade noch genug Atem holen ließ, um sich ihrer bewusst zu sein."

  Bodo Kirchhoff in Widerfahrniss

Ein Kuss - die unerhörte Begebenheit

Der erste Kuss zwischen Reither und Leonie fällt ineins mit dem, was man die unerhörte Begebenheit in Bodo Kirchhoffs Novelle nennen könnte: die Begegnung mit einem afrikanischen Flüchtlingsmädchen, in dem beide ihre verlorene Tochter wiederzufinden glauben, weshalb sie das Mädchen nicht nur bei sich schlafen lassen, es neu einkleiden, sondern mit zurücknehmen wollen nach Deutschland. Bodo Kirchhoffs Liebes-Novelle gewinnt durch diesen Handlungsstrang eine eminent aktuelle und politische Bedeutung, und die über den Text verstreuten Wahrnehmungen des Flüchtlingsgeschehens, dem seine Protagonisten auf der Fahrt durch Italien begegnen, erweisen sich als kluge leitmotivische Elemente. Ergreifend schildert Kirchhoff die versuchte Annäherung an das fremde Mädchen, dessen Sprache Reither und Leonie nicht sprechen, und zeigt, dass ihre Suche nach einem privaten Liebesglück nicht nur bedroht ist durch die Schatten persönlicher Traumata, sondern auch durch das sich aufdrängende Unglück der Flüchtlinge. Das romantische Roadmovie kippt ins Tragische, und die Widerfahrnis, von der Kirchhoffs altersmüdes Paar schon gezeichnet ist, wiederholt sich noch einmal auf unvorhergesehene Weise.

Fazit

Eine meisterhaft erzählte Geschichte: packend, erschütternd, literarisch auf höchstem Niveau.

Diwan

Bodo Kirchhoff: "Widerfahrnis" Novelle, 224 Seiten, Frankfurter Verlagsanstalt 2016

Jochen Rack hat das Buch für den Diwan gelesen. Samstag, 17. September 2016, 14.05 Uhr, (Wiederholung 21.05 Uhr)


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