Ein großer Familienroman Fatma Aydemirs neues Buch "Dschinns"
Was passiert, wenn die Idee einer Zukunft plötzlich zerbricht? In ihrem Roman "Dschinns" erzählt die Berliner Schriftstellerin Fatma Aydemir vom Leben einer Familie zwischen Deutschland und der Türkei. Und spielt mit den Geistern.
Fatma Aydemir: Ich würd schon sagen, dass "Dschinns" auch eine Art von Geistergeschichte ist, aber vielleicht nicht so eine klassische Geister-Horrorgeschichte in dem Sinne. Aber es geht schon viel um Rätsel und Mysterien und eine gespenstische Stimmung in dieser Wohnung, in der sich alles abspielt.
Eine Wohnung in Istanbul, die der Vater der Familie von seinem mühsam ersparten Geld gekauft und eingerichtet hat. Diese Wohnung soll ihn, seine Frau und die mittlerweile erwachsenen Kinder für all die Entbehrungen der letzten Jahrzehnte entschädigen – nur leider stirbt Hussein kurz, nachdem er die Wohnung fertig eingerichtet hat. Die eilig aus Deutschland angereiste Ehefrau Emine sowie die vier Kinder Ümit, Hakan, Peri und Sevda treffen sich in der fremden Wohnung eines Toten wieder.
Fatma Aydemir: Wir sind alle auf eine Art und Weise von unseren Geistern besessen. Mein "Dschinn" wäre sozusagen der Teil meines Ichs, den ich verberge, wenn ich mit anderen zusammen bin
So beschreibt Fatma Aydemir ihre Vorstellung dieser mythologischen Figuren. Und in der Familie, die sie in ihrem Roman porträtiert, haben alle etwas zu verbergen: Traumatische Erfahrungen beim Militär, ein verlorenes Kind oder generell den Traum von einem freieren Leben, als es die Eltern gutheißen könnten. Schonungslos ehrlich und gleichzeitig sehr einfühlsam beschreibt Fatma Aydemir diese kleinen und großen Lebenslügen. Wie jeder und jede in dieser Familie den anderen nur eine geschönte Version ihres Selbst präsentieren – vielleicht, weil ein offener Konflikt nicht auszuhalten wäre. Nur die älteste Tochter wagt es, gegen die Eltern zu rebellieren. Ihr wird aber auch übel mitgespielt: Als Kind muss sie als Haushaltshilfe bei den Großeltern in der Türkei bleiben, später in Deutschland darf sie keine Schule besuchen. Während ihre jüngere Schwester sogar studieren und sich über Nietzsche den Kopf zerbrechen darf. Sevda geht trotzdem ihren Weg und lebt als alleinerziehende Mutter und Geschäftsfrau eine Unabhängigkeit, die ihrer Mutter völlig fremd ist.
Fatma Aydemir hat den Roman in den 80er und 90er Jahren angesiedelt. Zum einen, weil sie – wie sie erzählt – die Popkultur, besonders Hiphop aus dieser Zeit sehr mag. Zum anderen, weil sie das politische Klima von damals beschreiben wollte. So überleben Sevdas Kinder nur mit viel Glück einen mutmaßlichen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus, weil es aber keine Toten gibt, wird nicht wirklich nach den Tätern gefahndet.
Fatma Aydemir: Ich habe dann angefangen, mich sehr starkt mit den rechten Terroranschlägen und Brandanschlägen der 90er Jahre zu beschäftigen – eben Solingen, Mölln und so weiter. Ich fand das wichtig, um zu verstehen, dass die rechten Anschläge, die leider heute immer noch Teil unserer Realität sind, einfach so eine Kontinuität darstellen. Und eigentlich auch schon weiter zurückreichen. In den 80er Jahren gab es auch schon Anschläge – die haben vielleicht nicht diese große Sichtbarkeit gehabt, wie später die in den 90ern.
Die Gespenster der Vergangenheit sind sehr lebendig in diesem Roman: Die Mutter Emine zum Beispiel ist geschockt, als sie zum ersten Mal im Fernsehen vom Holocaust und der deutschen Geschichte erfährt und fragt ihren Mann, wie sie nur in so einem Land leben können. Der Vater wiederum verbietet seiner Frau mit den Kindern kurdisch zu sprechen, die eigene Identität wird aus Angst vor türkischen Nationalisten geheim gehalten. Der plötzliche Tod des Vaters bringt die zerstrittene Familie wieder zusammen – genial beschreibt Fatma Aydemir eine Art Showdown zwischen Mutter und Tochter, bei dem die Mutter selbst kurz wirkt wie ein Geist – und ihr Kokon aus Heimlichtuerei und Ablehnung endlich Risse bekommt.
Fatma Aydemir: Was mir wichtig war an dem Gespräch, ist auch, dass Sevda sich bewusst wird: Okay, die Welt ist nicht so einfach, dass man sagt: Frauen werden unterdrückt, weil Männer sie unterdrücken. Sondern es gibt auch Frauen, die dafür sorgen, dass das Patriarchat so erhalten bleibt und die sozusagen zu Mittäterinnen und Mitunterdrückerinnen werden. Und dass ihre Mutter vielleicht nicht genug achtgegeben hat auf sie und mehr Druck ausgeübt hat als der Vater. Also das so ein bisschen aufzubrechen.
"Sevdas Augen sind wieder sanft geworden. Vorsichtig füllt sie erst Tee und dann Wasser in dein Glas. Du blickst ihr ins Gesicht und blickst damit in dein eigenes, siehst, wie Sevda nun leidtut, was sie vor ein paar Minuten gesagt hat, und wie dir selbst leidtut, was du gesagt hast. Ihr seid einander so ähnlich, wie ihr euch selbst in Rage bringt und Dinge in den Raum werft, die ihr dann gleich wieder bereut, und wie es euch schwerfällt, euch dafür zu entschuldigen."
Auszug aus 'Dschinns' von Fatma Aydemir
Mit "Dschinns" hat Fatma Aydemir einen kraftvollen, manchmal schmerzhaft ehrlichen Familienroman geschaffen, in dem alle Figuren ihre Abgründe offenbaren und trotzdem ihre Würde behalten. Man lebt und leidet mit ihnen bis zum dramatischen Schluss.
Fatma Aydemirs Debütroman "Ellbogen" aus dem Jahr 2017 erzählt von einem jungen Mädchen, dass nach einer Gewalttat vor der Verfolgung in die Türkei flüchtet und dort den Militärputsch erlebt. Die Schriftstellerin – geboren 1986 in Karlsruhe – ist taz-Autorin, Mitbegründerin der "taz gazette", sie schreibt für Magazine wie "Missy" und hat zusammen mit Hengameh Yaghoobifarah den Sammelband "Eure Heimat ist unser Alptraum" herausgegeben.
Fatma Aydemir "Dschinns" ist bei Hanser erschienen, hat 368 Seiten und kostet € 24,-.
Die Buchbesprechung lief am 13. Februar 2022 in der Sendung Diwan – Das Büchermagazin auf Bayern 2. Den Podcast zur Sendung können Sie hier abonnieren.