Eva Meyer Orlando oder das Geschlecht der Zeit
Welch ein Gedankenexperiment, sich ein Wesen vorzustellen, dessen Zeit nicht der unseren entspricht! Wenn es nicht nur intelligent, sondern auch anmutig ist, gelingt es ihm, uns anzusprechen und wir erleben, was wir nicht begreifen: Dass sich Wirklichkeit mit Unmöglichkeit paart und Neues hervorbringt. Das aber wäre keineswegs übernatürlich. Es bedarf nur des Ortswechsels innerhalb eines Bewusstseins, den Virginia Woolf in Orlando personifiziert, dessen Biographie sie schreibt und am 11. Oktober 1928 veröffentlicht. Diese reicht von elisabethanischen Tagen bis zum Tag ihres Erscheinens und wird auf halbem Weg zur Biographie einer Frau, die Orlando seitdem geblieben ist. Und während die Zeit über sie hinweggeht, gibt sie es auf, „die sechzig oder siebzig Zeiten zu synchronisieren, die gleichzeitig in jedem menschlichen Organismus ticken“. Sie verteilt sie über die Geschlechter und gibt sich ihren Zweideutigkeiten hin. Indem sie es wechselt, gehört das Geschlecht nicht mehr ihr. Es gehört der Zeit mit all ihren Reisen und Abenteuern durch die „tausend Andeutungen und Geheimnisse“, deren Dunkel die Geschlechter trennt.
Eva Meyer: Orlando oder das Geschlecht der Zeit
BR 2013 ca. 50'