Deutschland 2089 - 17 Szenarien aus der Zukunft Zukunft in Vor- und Rückblenden
I’ll play it first and tell you what it is later. (Miles Davis)
Nothing is written into the stars.(Phantom/Ghost)
Gegenwart nennen wir bekanntlich, wenn es hochkommt, 90 Jahre. Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von 20 Milliarden Jahren. (Alexander Kluge)
Erfundenes Europa im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert, als Collage zusammengestellt aus historischen literarischen Utopien und Dystopien, was für einen Jubiläumskalender, was für Jahrestage, was für Landkarten würde so eine Gegenwelt-Geschichte wohl ergeben.
Eine Chronik nie stattgefunden habender Zukünfte müsste sich die vielen staatspolitischen Romane des fin-de-siècle genauso vornehmen wie die Endzeitvisionen, die in den 1950er und 1960er Jahren geschrieben wurden.
Vielleicht würde sie mit dem vermeintlich letzten Menschen auf der Erde beginnen, der in Arno Schmidts Schwarze Spiegel im Jahr 1962 mit dem Fahrrad durch eine von den Folgen des Dritten Weltkriegs verheerte Landschaft fährt.
Dann 1964: Tod Adolf Hitlers, der den Zweiten Weltkrieg gewann und die Weltherrschaft übernahm wie in Helmut Heißenbüttels 1975 geschriebenem Prosatext Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewonnen hätte.
Sie könnte weitergehen mit der von Arnold von der Passer 1893 im Roman Mene Tekel! prognostizierten wirtschaftsmonopolitischen Lage für die Jahre 1975-1999, nach der er es im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland nur noch eine einzige Riesen-Aktiengesellschaft gegeben hätte, welche alles produziert, was überhaupt zu produzieren möglich ist.
Dann könnte sie springen zu 2011: Wieder wird die Erde fast vollständig vernichtet, in Teilen aber von den Chinesen naturgetreu wieder aufgebaut, wie Alexander Kluge in Lernprozesse mit tödlichem Ausgang skizziert.
Dann Carl Amerys Ende des Energiezeitalters im Jahr 2013, im Roman Der Untergang der Stadt Passau 1975, vor dem Hintergrund der Ölkrise erdacht.
Vorläufiger Endpunkt wäre 2050, das Jahr in dem die umfangreiche Arbeit, alle Bücher ins totalitäre Neusprech zu übersetzen abgeschlossen wäre, wie von George Orwell in 1984 angekündigt.
Als Hoffnungsschimmer bliebe der Ausblick der österreichischen Künstlerin pezoldo alias Friederike Petzold auf einen utopischen Umgang mit Medien, welchen sie mit dem Manifest "rfu - Radio freies Utopia" in dem 1995 erschienenen Katalog Kunst für das 21.Jahrhundert. Entwurf einer Gegenwelt gibt:
"RFU IST NICHT FERNSEHEN - ES SENDET OHNE RADIOWELLEN OHNE KABEL OHNE SATELLITEN. RFU IST NICHT PRIVATFERNSEHEN - IST NICHT PRIVAT KONSUMIEREN WAS ANDERE MACHEN - SONDERN IST PRIVAT PRODUZIEREN, IST SELBER WAS MACHEN."
Dieser Ausblick könnte freilich auch Teil einer anderen utopischen Chronik werden - einer Medienchronik, die in der Literatur beschriebene, fiktiv gebliebene technische Neuerungen aufführt. Beide hier anskizzierten Chroniken bleiben vorerst selbst utopische Idee.
Den Versuch allerdings, von einem bestimmten Datum ausgehend, zukünftige Gegenwelten und fiktive Geschichtsschreibung zu entwerfen, realisierte das Projekt Deutschland 2089, ein Radio-, Download und Buchprojekt der Redaktion Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks.
Der Wunsch nach solchen Entwürfen wurde unter anderem 2009 durch die medial vermittelten Feierlichkeiten zu 60 Jahren Bundesrepublik und 20 Jahre Mauerfall ausgelöst, die durch die Zelebrierung von Vergangenheit den Eindruck erweckten, als ob es kein Morgen gäbe. Schon in den Vorschauen und Ankündigungen aller Erinnerungsshows und Rückblicke wurden die immer gleichen Bilder gezeigt, was per se das Bedürfnis nach einer anderen Perspektive weckte.
Es lag daher nahe, deutschsprachige Autorinnen und Autoren einzuladen, sich auf das Gedankenspiel einzulassen, 80-90 Jahre in die Zukunft zu schauen und sich den Alltag einer übernächsten Generation vorzustellen. Eine Zeitspanne, die über die eigene Lebenserwartung hinausgeht und doch nicht allzu weit entfernt ist. Es sollte darum gehen, sich aus der Gegenwart heraus mit der nächsten Zukunft zu beschäftigen und Annahmen, Spekulationen und Szenarien zu entwerfen, ohne sich in die beliebigen Weiten der Science Fiction zu verflüchtigen.
Die Jahreszahl 2089 bildete hierbei eine Referenz, eine Hilfestellung gewissermaßen. Die darin implizierten Fragen und mögliche Bedeutungen - wie beispielsweise die nach dem Jahrestag des hundertjährigen Mauerfalls - wurden zum Teil von den Autoren aufgegriffen, doch die Vorstellungen gingen weit über die von dieser Jahreszahl hervorgerufenen Assoziationen hinaus.
Die vorliegende Anthologie ist also notwendigerweise eine sehr heterogene Text-Sammlung. Es gibt die klassisch erzählten Kurzgeschichten, die in der Zukunft spielen ebenso wie Gegenwartsbeschreibungen, die sich - unter dem Blickwinkel des Zukünftigen - futuristisch lesen.
Es gibt Zukunftsretrospektiven, einen fiktiven Radiokommentar, essayistische Texte, die über die Beschäftigung mit nahen oder fernen Zukünften reflektieren und die Dokumentation eines fiktiven Archivs des 21. Jahrhunderts. Man kann aus den Texten verschiedene gesellschafts-politische Hypothesen für Deutschland, Europa oder das Weltgeschehen herauslesen, genauso wie die subjektiven Fragestellungen selbstverständlich viel über die Gegenwart erzählen.
Die 17 Szenarien schreiben mit den Möglichkeiten von Sprache und Phantasie literarische Utopie fort, für das Hier und Jetzt sollten sie aber vor allem an eins erinnern: Keine Art von Zukunft, ob politische oder private, ist festgeschrieben. Sie kann bewusst mit gestaltet und selbst bestimmt werden.
Katarina Agathos