4. November 1970 Wolfskind Genie in Los Angeles entdeckt
Susan M. Wiley war noch keine zwei Jahre alt, als sie ihr Vater von der Außenwelt abschloss. Mit 13 Jahren wird sie entdeckt. Autorin: Anna Lipscher
04. November
Freitag, 04. November 2016
Autor(in): Anna Lipscher
Sprecher(in): Krista Posch
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Die Mitarbeiterin des Sozialamtes empfängt eine Mutter mit ihrem Kind. Die Mutter beantragt für sich Blindenhilfe. Das Kind neben ihr ist blass, nervös und ängstlich, steht unsicher nach vorne gebeugt und riecht nach Fäule. Die Sozialarbeiterin schätzt es auf sechs bis sieben Jahre.
Tatsächlich ist es 13 Jahre alt. Ein Mädchen. Sie heißt Susan M. Wiley. Die Szene ereignet sich in Los Angeles am 4. November 1970. Nur durch die aufmerksame Sozialarbeiterin, die die Polizei informiert, wird das Schicksal des Mädchens entdeckt. Unter dem Namen "Genie" geht ihre Geschichte durch die Medien.
Ruhiggestellt mit einer Zwangsjacke
Geboren wird Susan alias "Genie" 1957 als viertes Kind von Irene und Clark Wiley. Sie lebt mit den Eltern im Haus der Großmutter. Nach deren Tod entwickelt sich der Familienvater zu einem Tyrannen. Seine fast erblindete Frau ist ihm gegenüber hilflos, außerdem hat sie psychische Probleme.
Aus dem ehemaligen Zimmer der Großmutter macht der Vater einen abgedunkelten Raum. Als Genie gerade anfängt sprechen zu lernen, erklärt er sie für geistig zurückgeblieben - als "Gefahr für die Außenwelt"! Mit 20 Monaten sperrt er das Mädchen ein. 11 Jahre lang wird Genie in ihrem Verließ gefangen gehalten. Sie schläft in einem vergitterten Bett, ruhiggestellt mit einer Zwangsjacke, und wenn der Vater vergisst sie abzubinden, verbringt sie die Nacht auf einem kleinen Toilettenstuhl.
Im dunklen Zimmer kann Genie fast nichts sehen, Geräusche von außen dringen kaum zu ihr durch. Wenn sie weint, kommt der Vater und bestraft sie mit Schlägen oder bellt sie an wie ein Hund.
Mit 13 Jahren ist Genie unterernährt und körperlich verkümmert. Sie verhält sich wie ein Tier, sie spuckt und kratzt und masturbiert. Am Tag, als Genie im Sozialamt auftaucht, werden die Eltern verhaftet.
Sie kommt in ein Kinderkrankenhaus, dann in die Sonderschule und zu einer Pflegefamilie. Sie soll zu einem "normalen" Menschen umerzogen werden.
Das "Genie-Projekt"
Doch zuerst stürzen sich Wissenschaftler auf Genie. Das "Wolfskind " fasziniert Linguisten, Soziologen und Psychologen. Das sogenannte "Genie-Projekt" macht sie zum begehrten Untersuchungsobjekt. Unter der Lupe der Wissenschaftler macht Genie Fortschritte. Sie lernt mühsam, sich mit Worten auszudrücken und entwickelt Vertrauen zu ihrer Umgebung.
Bis sie wieder zum Opfer wird. Sie wird von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, wo man ihr bald wieder Gewalt antut. Aus Genies Fortschritten werden Rückschritte, und die Forscher verlieren allmählich das Interesse.
1978, acht Jahre nach ihrer Entdeckung, erhält Genies Mutter das Sorgerecht für ihr Kind zurück. Sie nimmt sie zu sich und schirmt sie zum Schutz von der Öffentlichkeit ab. Inzwischen ist Susan M. Wiley Mitte 50. Vermutlich lebt sie in einem Pflegeheim. Der Kontakt zu ihr ist richterlich verboten.