Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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27. Januar 1854 Victor Hugo plaudert mit Shakespeares Geist

Im Exil in den USA ist dem französischen Dichter Victor Hugo langweilig. Also beginnt er damit, die Geister großer Schreiber der Vergangenheit heraufzubeschwören. Ein illustrer Austausch mit Shakespeare und Co. beginnt, zu dem Hugo gerne Freunde und Bekannte einlädt. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 27.01.2025

27.01.1854: Victor Hugo plaudert mit Shakespeares Geist

27 Januar

Montag, 27. Januar 2025

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Caroline Ebner

Redaktion: Susi Weichselbaumer

O, wie er Paris vermisst! Wie sehr Frankreich ihm fehlt!

Schon richtig, Jersey hat ihm und seiner Familie Asyl gewährt. Aber um welchen Preis! In Paris, da war er wer: Monsieur Victor Hugo! Frankreichs größter Dichter! Das Herz und die Stimme der Nation! Eine lebende Legende! Und hier? Auf dieser Kartoffelinsel im Ärmelkanal? Ein Gestrandeter, ein Niemand, verbannt und ins Nichts getreten von Louis-Napoléon Bonaparte.

Hugo hadert wegen Heimweh

Stillhalten, sich ducken konnte er nicht, als sich der gewählte Präsident zum Diktator aufschwang und die Republik verriet. Der Widerstand war kurz. Louis-Napoléon lässt den Aufstand niederschießen und treibt die Rädelsführer ins Exil. Darum Jersey. Darum die Flucht. Sein Vermögen, seine Existenz, seine Familie hat er gerettet, das ist schon richtig. Aber jetzt zieht ihm der Sturz in die Bedeutungslosigkeit das Mark aus den Knochen. Durchtränkt vom Glauben an die eigene Größe und Sendung plötzlich nicht mehr gehört, gefragt, hofiert und bewundert zu sein, hat ihn mutlos und träge gemacht.

Es mangelt an Beschäftigung

"Du brauchst Anregung", mahnt eine Freundin, "etwas, das dich ablenkt und anspornt. Versuchs mal mit Tischerücken. Alle machen das jetzt und amüsieren sich prächtig dabei." Also gut, warum nicht? Ein dreibeiniger Drehtisch ist schnell besorgt, die Kunst rasch erlernt: Die Teilnehmer legen die Hände locker auf den Tisch, die abgespreizten Daumen und kleinen Finger schließen einen magischen Kreis.
Dann heißt es warten, bis das Stoßen und Drehen des Tischleins eine Präsenz mit Mitteilungsdrang meldet. Sprechen können die Geistergäste zwar nicht, aber sie klopfen eine Art Morsecode, den jeder Séancegeübte zu Buchstaben, Wörtern und Sätzen reiht.

Victor Hugo fängt sofort Feuer. Das ist seine Bühne. Das ist der lang entbehrte Echoraum, in dem seine Größe endlich widerhallt. Von nun an sitzen der Hausherr, Madame Hugo, der Sohn Charles und wechselnde Teilnehmer Abend für Abend am pochenden Geistertisch. Victor ruft, und alle eilen herbei. Zwei Jahre lang gehen die Großen der Welt- und Kulturgeschichte im Haus auf Jersey ein und aus: Platon, Cäsar, Mohammed, Sokrates, Jesus, Luther, Homer, Galileo, Moliere, Mozart – keiner fehlt, der Rang und Namen hat.

Unter allen Besuchern sticht einer heraus: Keiner kommt öfter, keiner lieber als William Shakespeare persönlich. Ach, William und Victor! Da haben sich zwei gefunden! Da sprüht Gipfellicht! Man plaudert, tauscht sich aus, spreizt die Federn beim poetischen Pas de Deux, dichtet bisweilen sogar im Duett. Den Zenit erklimmt die spiritistische Bromance am 27. Januar 1854. William weht vorbei, um ein Gedicht abzuschließen, an dem er jetzt schon einige Abende herumgeklopft hat. Aber es läuft nicht rund. Shakespeare steckt fest, weiß nicht weiter, bittet schließlich den irdischen Freund, das Werk zu vollenden.

Puh! Mehr geht nicht! Das lässt sich nicht toppen! Der große Shakespeare setzt Victor Hugo die Dichterkrone auf. Chapeau, Monsieur! Raffinierter hat vermutlich noch niemand bewiesen, dass nichts auf Erden süßer schmeckt als jenes Lob, das wir uns selber so gern spenden.


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