12. Juni 1936 Karl Kraus gestorben
“S´ist Krieg“ - kann dieser Satz wirklich jede Idiotie entschuldigen? In “Die letzten Tage der Menschheit“ führt Karl Kraus die Menschen vor, die den Ersten Weltkrieg verursachen, mitmachen und darin umkommen. Am 12. Juni 1936 ist er gestorben. Autorin: Silvia Topf
12. Juni
Freitag, 12. Juni 2015
Autor(in): Silvia Topf
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Frank Halbach
Wien im April 1899: Karl Kraus, gerade einmal 25 Jahre alt, bringt die erste Nummer der Zeitschrift "Die Fackel" heraus. Und tatsächlich: Gleich gibt es ziemlichen Qualm, sogar gerichtliche Auseinandersetzungen. Mochte die journalistische Konkurrenz die neue Zeitschrift anfangs noch für das egozentrische Treiben eines finanziell unabhängigen Industriellensohnes gehalten haben, der lustvoll alles "Wahre, Gute und Schöne" verriss, so zeigte sich bald an den für die damalige Zeit hohen Absatzzahlen, dass die "Fackel" ihr Leserpublikum gefunden hatte. Der Fackel-Kraus war eine Instanz geworden, die Etablierten begannen seine Angriffe zu fürchten.
37 Jahrgänge lang hat Karl Kraus dann als Herausgeber und fast alleiniger Autor der "Fackel" seinen unermüdlichen Kampf gegen Phrase und Ideologie geführt und das Bewusstsein geschärft für den Zusammenhang von Kultur, Politik und Gesellschaft. Wie kein anderer hat Kraus immer wieder die sprachlichen Deformationen angeklagt. Der Mensch lebt in der Sprache, und wo Sprache vergewaltigt wird, ist es bis zur Vergewaltigung der Menschen nicht weit, davon war Kraus überzeugt.
Die letzten Tage der Menschheit!
Wie recht er damit hatte zeigte sich, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und im nationalen Siegestaumel der Ruf "Serbien muss sterbien!" erscholl. Da verschlug es Kraus zunächst die Sprache, aber dann meldete er sich umso vehementer zu Wort mit der Tragödie "Die letzten Tage der Menschheit", einem Hochgericht auf Trümmern, veranstaltet mit Hilfe der Sprache. Kraus sah im Gegensatz zur Mehrheit seiner Zeitgenossen im Ausbruch des Krieges ein Indiz für die allgemeine Korruption des Geistes in einer Gesellschaft, die den Krieg als Abwechslung erlebt, und die das Unglück als Belebung der Konjunktur willkommen heißt.
Einem Marstheater zugedacht
Mehr als 500 Figuren lässt Kraus in über 200 Szenen Revue passieren. Für aufführbar hielt Kraus seine Tragödie nicht, er befürchtete, dass dabei ein Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Sensation wohl unvermeidbar wäre. Besser, so glaubte er, wäre eine dramatische Lesung. Kraus selbst hat deshalb häufig aus den "Letzten Tagen der Menschheit" öffentlich vorgelesen und das Publikum in seinen Bann gezogen, wenn er den historischen, erfundenen oder allegorischen Personen seines apokalyptischen Karnevals seine Stimme lieh: Alle wurden sie da lebendig, die Militärs und die Zivilisten, die Kriegsgewinnler und die Kriegsopfer, die Journalisten und Dichter, Kaiser Wilhelm II. und der greise Kaiser Franz Joseph. Wir begegnen ihnen auf der Wiener Ringstraße, in Schönbrunn, in der Hofburg, im Kaffeehaus, an den Kriegsschauplätzen in Serbien und in der Bukowina, in der Schlacht und in der Etappe.
Aber so unwahrscheinlich die Taten, von denen Kraus berichtet, auch erscheinen mögen, sie sind tatsächlich geschehen, die unwahrscheinlichsten Gespräche sind wörtlich gesprochen worden und die grellsten Erfindungen - sie sind Zitate.
Jeder, den Karl Kraus in seiner Text-Montage zum Sprechen bringt, redet sich um Kopf und Kragen. Der Refrain "S'ist 'Krieg!" entschuldigt alles. Kraus aber klagt an, er ist der Richter, er spricht den Schuldspruch - und erlöst wird niemand, auch wenn im Epilog der liebe Gott das letzte Wort erhält.
"Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe!“, sagte Karl Kraus, “weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen." Der Lauf der Geschichte hat gezeigt, wie recht Karl Kraus damit hatte.
Den zweiten Weltkrieg hat der Jude Kraus dann nicht mehr erlebt. Wäre er nicht am 12. Juni 1936 in seiner Wiener Wohnung einem Herzleiden erlegen, er wäre wohl auch, wie sein Bruder Josef, im KZ umgekommen.