18. Mai 1972 "Die neuen Leiden des jungen W." uraufgeführt
Edgar Wibeau heißt der unangepasste Junge. In der DDR verliebt er sich in eine Kindergärtnerin, die aber schon einem anderen "versprochen" ist, ganz ähnlich wie in Goethes "Werther". Autorin: Gabriele Bondy
18. Mai
Donnerstag, 18. Mai 2017
Autor(in): Gabriele Bondy
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Er sei rot bis auf die Knochen, hat Ulrich Plenzdorf von sich behauptet. Wen sollte das wundern? War ihm doch schon daheim die linke Richtung gewiesen worden. Seine Arbeiter-Eltern - überzeugte und aktive Kommunisten - waren von den Nazis verfolgt worden. 1950 siedelte die Familie aus politischen Gründen von West- nach Ostberlin über. Der Sohn studierte Marxismus - Leninismus und Philosophie, absolvierte die renommierte "Deutsche Hochschule für Filmkunst" in Potsdam und fand anschließend Beschäftigung als Dramaturg und Drehbuchautor bei der DEFA.
Polit- und Herzensdrama
Den real existierenden Sozialismus lernte er als Bühnenarbeiter und Soldat der NVA kennen. Rundum eine handfeste Vorbereitung auf seine Position als literarischer "Shooting-Star" im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat... und weit über dessen Grenzen hinaus. Plenzdorfs idealistische linke Gesinnung hinderte den ebenso begabten wie mit preußischem Fleiß gesegneten Autor jedoch nicht am genauen Hinschauen und kritischen Denken.
Dass das zunächst als Film, Bühnenstück und später in Prosaform verfasste Werk "Die neuen Leiden des jungen W." zum Kassenschlager avancierte, hätte sich der Autor selbst nicht träumen lassen. Doch wider Erwarten wurde das Polit -und Herzensdrama von der Ostberliner Zensurbehörde freigeben. Es galt als Fanal einer leider nur vorübergehenden Liberalisierungsphase im Kulturbetrieb. Erich Honecker, der Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzenden abgelöst hatte, war nämlich der Überzeugung, es solle, "wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, in Literatur und Kunst keine Tabus geben." So konnten "Die neuen Leiden des jungen W." am 18. Mai 1972 im Landestheater Halle uraufgeführt werden und fanden begeisterte Zustimmung. Vermittelte das Stück doch die realitätsnahe Beschreibung des Lebensgefühls der aufmüpfigen Jugend. Frust und wenig Lust zwischen deutscher Spießigkeit und hehren, sprich unerreichbaren, sozialistischen Zielen. Der authentische Jargon, versetzt mit Originalzitaten aus Goethes berühmtem Sturm-und-Drang-Roman, "Die Leiden des jungen Werther", geriet zum Klassiker der 1970er-Jahre.
Der Traum von Rockmusik und "echten" Jeans
Der neue Werther, Edgar Wibeau, verkörperte mit seinen langen Haaren, dem Traum von "echten" Jeans und der Vorliebe für die in der DDR verpönte englischsprachige Rock- und Popmusik genau den Typ, dem ein Großteil der Jugend huldigte. Freilich wagten die wenigsten einen so krassen Ausbruch aus dem vom Politbüro gelenkten Alltag. Die Abbruch-Datsche eines Freundes wird für Wibeau zur Freizone, zum Ort für ein neues, ungesichertes Leben. Hier findet die scheue Begegnung zwischen dem neuen Werther und seiner Charlotte, einer Kindergärtnerin, statt, die allerdings wie die Goethe’sche Lotte bereits einem anderen "versprochen" ist. Edgar bemüht sich nicht nur als Mallehrer um Charlottes Kindergruppe, sondern auch als kreativer Bastler eines "nebellosen Farbspritzgeräts", das die Arbeit der Kumpels aus seiner Anstreicherbrigade vereinfachen soll. Als Charlottes - spießiger - Verlobte vom "Dienst an der Waffe" zurück kehrt, intensiviert der unglücklich verliebte Edgar seine Tüftelarbeiten, die allerdings tödlich enden. Zitat: "Nachdem, was die Ärzte sagen, war es eine Stromsache."
"Die neuen Leiden..." wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und über vier Millionen Mal verkauft. Das brachte dem DDR-Regime ordentlich Devisen ein. Vielleicht konnte das ja die Staatstragenden darüber hinwegtrösten, dass der bis dato von einer durchaus "festen sozialistischen Position" kommende Ulrich Plenzdorf nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der SED ausgetreten ist. Eine Konsequenz, die nicht von allen damals am Protest Beteiligten zu berichten wäre.