25. Mai 1927 Clärenore Stinnes fährt mit dem Auto um die Welt
Zu einer Zeit, in der es asphaltierte Straßen nur in Großstädten gab, und Autos in vielen Teilen der Welt noch völlig unbekannt waren, brach Clärenore Stinnes auf, um in einer Serienlimousine die Welt zu umrunden. Autorin: Prisca Straub
25. Mai
Donnerstag, 25. Mai 2017
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
"Ich heiße Stinnes und fahre im Auto um die Erde. Noch Fragen?"
Die Journalisten sind sprachlos. Sie wissen nicht so recht, wie sie mit der kettenrauchenden, jungen Dame umgehen sollen, die Hosen, Hut und eine Männerkrawatte trägt und auf so provozierende Weise nicht auf den Mund gefallen ist. Eine Erdumrundung querfeldein - in einer ganz normalen Serienlimousine der 20er Jahre. "Noch Fragen?" Nein, die Journalisten hatten keine Fragen mehr.
Rennfahrerin mit Beziehungen
Nun war die durchsetzungsfreudige Clärenore Stinnes durchaus nicht irgendwer: Als sie sich zu ihrer Weltreise entschließt, genießt die 26-Jährige bereits beachtlichen Ruhm als Europas erfolgreichste Rennfahrerin. Außerdem ist sie die Tochter eines schwerreichen Industriellen mit besten diplomatischen Beziehungen in alle Welt. Die werden sich auf der langen Fahrt als überlebensnotwenig erweisen.
Das Gefährt stellt die Firma Adler aus Frankfurt zur Verfügung: Keinen Geländewagen wohlgemerkt, sondern einen Standard 6 mit 45 PS - ein Monstrum mit geschwungenen Radkappen und riesigem Kühleraufsatz. Als einzige Veränderung lässt Stinnes zwei Liegesitze einbauen, um auf der Reise bequemer übernachten zu können.
Für den Beifahrersitz wählt sie den schwedischen Kameramann Carl-Axel Söderström: "Weil …", so findet sie, "…die Schweden so geduldig sind, und außerdem ist er ja verheiratet". Söderström soll das halsbrecherische Unternehmen auf Zelluloid bannen. Hätte er geahnt, dass die Reise mit mehr als zwei Jahren fast doppelt so lange dauern würde wie geplant und seine Osloer Ehe darüber in die Brüche gehen sollte - der Mann hätte sich vermutlich anders entschieden. Doch so dreht am 25. Mai 1927 "das verehrte Fräulein Stinnes" in Frankfurt zum Auftakt den Zündschlüssel.
Die gute Stimmung ändert sich schlagartig: Schon am zweiten Tag geht bei Prag die Kupplung drauf. Stinnes mahnt zur Eile und streicht als erstes das Mittagessen. Sie will Sibirien noch vor Einbruch des Winters passieren. Söderström beginnt es, mulmig zu werden.
Die Frau aus Stahl
Um auf mindestens 40.000 gefahrene Kilometer zu kommen - die Zahl, die dem Erdumfang entspricht - wählt Stinnes nicht die direkte Route nach Moskau, sondern fährt Umwege über Beirut, Damaskus und Bagdad.
Spätestens jetzt weiß Söderström, dass hinter dem Lenkrad eine sitzt, die - so findet diesmal er: "aus Stahl gemacht zu sein scheint!" Er selbst ist definitiv aus anderem Material: 40-Stunden-Etappen, Hunger, Durst, Hitze, Regen – das Unternehmen wird eine Schinderei sondergleichen. Hinzu kommen diplomatische Verwicklungen, die Stinnes mal mit Hilfe des prominenten Namen ihres Vaters mal einfach nur mit Frechheit löst: Kraftausdrücke sind im Tonfall ja international. "Man muss sich fast von jedem Platz wegschleichen", schreibt ein peinlich berührter Söderström in sein Tagebuch. Endlich in Sibirien, riskieren sie auf dem zugefrorenen Baikalsee ihr Leben: Um ein Haar versinkt die Limousine in einer Eisspalte. Immerhin: Clärenore bietet Carl-Axel das Du an.
Nachdem das Auto per Schiff nach Amerika verfrachtet ist, beginnt der schwerste Teil der Reise: Peru - vom Meer hinauf über die Kordilleren auf 3.000 Meter Höhe. Die Steigungen von bis zu 60 Grad sind nur noch mit dem Flaschenzug zu bewältigen. Stellenweise muss der Weg mit Dynamit frei gesprengt werden. Die Hände blutig, die Kleider in Fetzen, manchmal beträgt die Tagesleistung nicht mehr als 150 Meter. Um nicht zu verdursten, trinkt das ungleiche Paar Wasser aus dem kochenden Kühler.
Nach der Durchquerung Nordamerikas geht es schließlich von New York mit dem Dampfer nach Le Havre. Im Sommer 1929 erreichen Stinnes und Söderström endlich Berlin. Der Kilometerzähler steht auf über 46.000. Das Unternehmen ist geglückt. Und weil 25 Monate Nervenkitzel auf dem Beifahrersitz durchaus Spuren hinterlassen, werden wenig später Eheringe ausgetauscht. Ganz nach dem Motto: Wo ein Auto ist, ist auch ein Weg.