27. März 1784 Goethe entdeckt den Zwischenkieferknochen
Was Theologen indiskutabel vorkam, versuchte Goethe zu beweisen: Mensch und Tier sind miteinander verwandt. Am 27. März 1784 entdeckte der rührige Dichterfürst tatsächlich den Zwischenkieferknochen, den Mensch und Affe gemeinsam haben!
27. März
Donnerstag, 27. März 2014
Autor(in): Gabriele Bondy
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Da war er nun Bestsellerautor, Maler, Minister und geadelter Geheimrat gar und schickte sich nun auch noch an, in den Naturwissenschaften Zeichen zu setzen. Die Zunft sah’s mit Skepsis. Dabei bemühte er sich redlich. Eilte, sobald es seine Zeit erlaubte nach Jena, in Loders Anatomische Anstalt. Obwohl ihm doch vor Leichen grauste, begann er eifrig Knochen zu zählen. "Ich weiß meine Osteologie auf den Fingern auswendig herzusagen." Ein fleißiger Student, der das Gelernte auch flugs seinen Weimarer Zeichenschülern weitergab. Doch er wollte mehr: Der Natur auf die Schliche kommen, mit all ihren Gesetzmäßigkeiten. Ein anspruchsvolles Ziel! "Wer doch nur einen aparten Kopf für die Wissenschaften hätte ..." seufzte er in ungewohnter Selbstbescheidung. Wohl wissend, dass hier durchaus Gefahr bestand, an die eigenen Grenzen zu stoßen.
Andererseits, waren Grenzen nicht dazu da, überwunden zu werden? Mit Ausdauer, Fleiß und Wissensdurst? Und einer handfesten These, die, das sei nicht verschwiegen, natürlich nicht allein von Goethe vertreten wurde; und zwar: "Mensch und Affe sind verwandt!" Vor allem viele Theologen wollten das so nicht hinnehmen. Die Krone der Schöpfung, Gottes Exklusivmodell, nichts als ein weiterentwickeltes Tier? Noch allerdings fehlte dem selbsternannten Naturforscher ein verbindlicher Beweis für diese Behauptung. Genauer gesagt, ein Knochen: "Os intermaxillare!" Auch Zwischenkieferknochen genannt. Die Säugetiere hatten ihn - und natürlich allen voran die Affen. Er musste also auch beim Menschen zu finden sein, sollte Goethes Maxime, "dass das Reich der Lebewesen ein großes Ganzes sei", Allgemeingültigkeit erlangen. Was Goethe, beseelt vom "Schauen, Beobachten und Entdecken", aber nicht wissen konnte: Das os intermaxillare war beim Menschen angelegt, bildete sich jedoch bereits im vorgeburtlichen Stadium zurück. Und war dann nur noch als feine Nahtstelle zu sehen.
Welche Fügung, als Goethe den Schädel eines Embryos in die Hand bekam. An ihm ließen nun sich die kaum sichtbaren Spuren des Zwischenkieferknochens nachweisen! "Ich habe eine solche Freude, dass sich mir alle Eingeweide bewegen."
Mit derartigem Geständnis wusste seine Geliebte, Charlotte von Stein, wohl eher wenig anzufangen. Deshalb schrieb er noch am gleichen Tag, dem 27. März 1784, auch Johann Gottfried Herder einen Brief: "Ich habe gefunden weder Gold noch Silber, aber ... das os intermaxillare beim Menschen. Nun bitt‘ ich Dich, lass dich nichts merken, denn es muss geheim behandelt werden. Es soll Dich recht herzlich freuen, denn es ist wie ein Schlussstein zum Menschen."
In seiner "Abhandlung aus dem Knochenreiche" befand Goethe dann, "dass man ... den Unterschied des Menschen vom Tier in nichts einzelnem finden könne. Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt." Die Resonanz der Fachwelt fiel bescheiden aus. Immerhin hatte ihm sein Lehrer, Professor Loder von der Universität Jena, Glauben geschenkt und seine Entdeckung in das "Handbuch der Anatomie" aufgenommen.
Von den osteologischen Studien indes mochte Goethe noch lange nicht lassen. Bald fesselte ihn die Frage, was es denn mit dem Horn des Rhinozeros auf sich habe ... und - man höre und staune - er ließ sich sogar einen Elefantenschädel schicken. "Ich habe ihn im innersten Zimmergen versteckt, damit man mich nicht für toll halte. Meine Hauswirtin glaubt, es sey Porzellan in der ungeheuren Kiste." - Natürlich hatte er "alle Tassen im Schrank". Dafür existieren wohl genügend Beweise.