6. Februar 1963 Bodensee komplett zugefroren
Seegfrörne: Das heißt der Bodensee ist komplett überfroren. Das letzte Mal war das im Winter 1962/63. Zwischen dem 7. Februar und 10. März 1963 konnte man den See sogar mit dem Auto überqueren. Autor: Xaver Frühbeis
06. Februar
Mittwoch, 06. Februar 2019
Autor(in): Xaver Frühbeis
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Es ist kalt in Deutschland. Sehr kalt sogar. Bei Würzburg ist der Main zugefroren, bei Köln kann man auf dem Rhein spazierengehen. Und im Süden ist zum ersten Mal seit über hundert Jahren der größte deutsche See, der Bodensee, mit einer Eisdecke überzogen. "Seegfrörne" nennen sie das Phänomen, für das man einen frühen Winter braucht, sehr kalte Luft, kaum Wind und wenig Sonnenschein.
Seegfrörne
Im November des Jahres 1962 geht es los. Die Kälte ist hart und nimmt kein Ende. Im Januar fällt das Thermometer auf minus 20 Grad. Der Untersee friert zu, ebenso der Überlinger See, in den tieferen Schichten des Obersees misst die Konstanzer Anstalt für Bodenseeforschung Wassertemperaturen in Gefrierpunktnähe. Eine komplette Seegfrörne ist in Aussicht.
Auf dem Untersee herrscht bereits Hochbetrieb. Man fährt Schlittschuh und Ski, Buden werden aufgebaut, mitten im See gibt es Bratwurst, Glühwein und allerlei Volksfestbetrieb. Währenddessen stellt die Bodenseeschifffahrt den Betrieb von immer mehr Linien ein. Anfang Februar ist auch die Insel Mainau vom Eis umschlossen, und am 5. Februar schließlich ist es soweit. Der ganze Bodensee: überzogen von einer geschlossenen Eisdecke.
Was zu beweisen war
Der Beweis muss sofort im Experiment erbracht werden. Eine Überquerung des Sees zu Fuß steht an. Gleich am nächsten Tag, am 6. Februar 1963, machen sich sechs Mann aus dem badischen Winzerdorf Hagnau auf den Weg übers Eis. Ihr Ziel: das sieben Kilometer entfernte Schweizer Ufer. Vormittags um halb zehn gehen sie los. Ausgerüstet mit Ski und Schlitten, mit Notwäsche, Kompass, Seil und Leiter. Über dem Eis liegt noch Nebel. Wasserstellen werden vorsichtig umgangen, vorsichtig hüpfen die Männer von Zeit zu Zeit, ein Test, ob das Eis noch hält. Bis dann plötzlich im Nebel aus der Ferne das Dahindampfen einer Lokomotive zu hören ist. Das Ufer ist nicht mehr weit. Um zehn vor zwölf erreicht die Gruppe die Schweizer Seite.
In Güttingen, im Gasthaus "Zum Schiff", wärmt man sich auf, die Gastgeber können kaum glauben, daß es schon am zweiten Tag nach dem Schließen der Eisdecke möglich sein soll, den See zu überqueren. Doch die Gruppe ist da, und das ist der Beweis. Der See ist zu, die einzige vollständige Seegfrörne des 20. Jahrhunderts offiziell.
In den zwei Monaten bis Ende März kommen täglich Tausende von Menschen aus nah und fern, um sich das Spektakel anzusehen. Und um auf dem See Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun könnten. Zwei Herren aus Wasserburg zelten auf dem Eis, drei Tage lang, bei minus 16 Grad. Flieger richten mitten auf dem See Flugplätze ein und laden zu Rundflügen ein. Der Gemeinderat von Nonnenhorn hält mitten auf dem Eis eine Gemeinderatssitzung ab. Zehntau-sende überqueren den See: zu Fuß, per Ski, Fahrrad oder Moped, im Auto, auf dem Rücken der Pferde. Und natürlich findet auch die traditionelle Eisprozession statt. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wird möglichst bei jeder Großen Seegfrörne eine Büste des Apostels Johannes über den See getragen. Entweder aus dem Schweizer Kloster Münsterlingen ins badische Hagnau oder umgekehrt, je nachdem wo sich die Büste grade befindet. Diesmal sind die Münsterlinger dran. In feierlicher Prozession holen sie den Apostel vom deutschen Ufer zu sich in die Schweiz.
Ende März setzt dann Tauwetter ein. Das Eis wird brüchig, die Schiffe fahren wieder. Die große Seegfrörne des 20. Jahrhunderts ist zu Ende. Und wer von hüben nach drüben gelangen will, der muss ab jetzt wieder mit dem Schiff fahren. Oder - zu Fuß außen rum gehen.