2. Januar 1901 Freud publiziert Arbeit zur Psychopathologie des Alltagslebens
Ein Freudscher Versprecher und schon ist man in Teufels Küche. Der Lapsus verrät, was das Gehirn eigentlich denkt, während man doch was ganz anderes sagen wollte oder sollte. Seit Freud weiß das jeder. Autorin: Brigitte Kohn
02. Januar
Donnerstag, 02. Januar 2020
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Die Psychoanalüge von Sigmund Freud – ach Verzeihung. Die Psychoanalyse von Sigmund Freud, so muss es heißen, nicht Psychoanalüge, natürlich nicht. Das war nur ein Versprecher, von der Kalenderblatt-Autorin ins Feld geführt, ganz bewusst und zu demonstrativen Zwecken. Aber wenn der Lapsus echt wäre, warum könnte er passiert sein? Zu vorgerückt die Stunde, zu viel Rotwein neben der Tastatur? Oder ein zufälliger Fehlgriff, bedingt durch die Tatsache, dass die Silbenfolgen -lyse und Lüge im Sprachzentrum des Gehirns sehr nah beieinander liegen?
Es geht in die Tiefe
Möglicherweise gibt es tiefere Gründe. Tiefenpsychologische Gründe. Möglicherweise gibt die Schreiberin gegen ihren bewussten Willen zu erkennen, dass sie die Psychoanalyse für eine Lüge hält. Die Psychoanalyse. Die Mutter aller Psychotherapien. Der erste Versuch, aus dem Zuhören und Verstehen ein standardisiertes Heilverfahren zu machen, das nachvollziehbaren Regeln folgt. Jene Theorie, die zu den wirkungsmächtigsten des 20. Jahrhunderts zählt. Die das Menschenbild verändert, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Literatur entscheidend geprägt hat und tief ins Alltagsbewusstsein eingedrungen ist. Die Psychoanalyse, das Gesellschaftsspiel der Moderne, wie der Schriftsteller Elias Canetti sie einmal genannt hat. Sollte eine simple Buchstabenverwechslung die Macht haben, Zweifel und Abwehr zu enthüllen? Aber sicher doch, würde Freud sagen. Die Gründe hat er im erfolgreichsten, meistverkauften seiner Werke dargelegt: "Die Psychopathologie des Alltagslebens", erschienen am 2. Januar 1901.
Fehlleistungen im Alltag
Statt mit Krankheitsbildern beschäftigt sich dieses Buch mit den Fehlleistungen, die alle Menschen aus Erfahrung kennen: etwas vergessen, etwas verlegen, sich versprechen, all die kleinen Störungen, die im alltäglichen Handeln und Sprechen unwillkürlich und unbeabsichtigt unterlaufen.
Für Freud sind sie kein Zufall, sondern motiviert: durch unbewusste oder halbbewusste Wünsche und Konflikte. So berichtet er zum Beispiel von einer Klientin, die sich bei der Nagelpflege eine kleine Verletzung der Nagelhaut zugefügt hat. Es war der Ringfinger. Es war an ihrem Hochzeitstag – "was der Verletzung des feinen Häutchens einen ganz bestimmten, leicht zu erratenden Sinn verleiht", kommentiert Freud, wie immer von der Macht des Sexualtriebs überzeugt.
Längst nicht jeder will ihm da folgen. Freud hat von vielen Seiten Widerspruch erfahren. Und doch birgt seine Theorie der Fehlleistung eine wesentliche Erkenntnis: Dass menschliche Sinnproduktion sich auch jenseits der bewussten Kommunikation ereignet, im Verborgenen, jenseits der Kontrolle des Subjekts. Freud hat sich nicht nur mit seinen Klienten, sondern auch mit Mythen und Dichtung beschäftigt, um das uralte Drama des Menschseins auf seine Weise darzustellen. Wer die Moderne mit all ihren Widersprüchen, mit all ihren Konflikten und Abgründen verstehen will, kommt an seinem Werk nicht vorbei.