28. Juli 2000 Garchinger Atom-Ei abgeschaltet
Als Garching aus dem Ei schlüpft, kann noch keiner ahnen, was da auf das kleine Örtchen bei München zukommt. Aber es ist ja auch kein gewöhnliches Ei, sondern ein Atom-Ei. Und das macht Garching zum Forschungszentrum, wenn auch nicht zum unumstrittenen. Irgendwann aber ist es vorbei für das Ei. Autor: Hellmuth Nordwig
28. Juli
Freitag, 28. Juli 2023
Autor(in): Hellmuth Nordwig
Sprecher(in): Krista Posch
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
"Glangt scho!", strahlte der bayerische Ministerpräsident. Neun Ja-Stimmen hatte Wilhelm Hoegner in seinem Kabinett gezählt, das waren die "Mehreren". Keine Diskussionen. Hatte doch der Bonner Atomminister Franz-Josef Strauß gerade verkündet: Das Bundesland, das den ersten deutschen Forschungsreaktor baut, bekommt 1,4 Millionen Mark Zuschuss. Passt, beschlossen die Minister in München, sonst gibt's womöglich: Atomkraft in Hessen, nein danke! Der Reaktor kommt zu uns.
Und zwar an die Technische Hochschule München, soviel war klar. Denn die hatte den Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz berufen, aber ohne Reaktor war er fast wie ein König ohne Land. Fragen musste die Staatsregierung damals, elf Jahre nach Kriegsende, niemanden. Genehmigungsverfahren? Ein Fremdwort. Eine Woche nach dem Kabinettsbeschluss flog Maier-Leibnitz in die USA und bestellte seinen Reaktor.
Reaktor geordert
Nur: Wohin mit dem guten Stück? Ideen gab es mehrere. Doch auf dem Gelände der Technischen Hochschule in der Münchner Maxvorstadt war es zu eng, und am nördlichen Ende des Englischen Gartens waren Sportplätze im Weg. Da muss man Prioritäten setzen. Also ab mit dem Reaktor auf die grüne Wiese - die verkaufte die Gemeinde Garching an den Freistaat. Und auch sonst lief alles wie am Schnürchen. Schon ein halbes Jahr nach der Entscheidung im Kabinett war Richtfest mit Weißwürsten, die "Uranstäbe" hießen und "Kühlwasser" genanntem Bier. Man war eben "atombewusst" damals - dafür hatte Franz-Josef Strauß gesorgt.
Wie der Architektur-Professor der Hochschule, Gerhard Weber, darauf kam, dem Reaktor seine phallische Ei-Gestalt zu verpassen, dazu liefert die offizielle Chronik eine wenig potente Erklärung: Er habe sich die Planetarien der Firma Zeiss zum Vorbild genommen. Wahrscheinlicher ist, dass auch hier Heinz Maier-Leibnitz seine Finger im Spiel hatte.
Der war nämlich begeisterter Hobbykoch mit Profi-Anspruch, wie sein legendäres "Kochbuch für Füchse" belegt. Die Seite 24 ist ausschließlich den Eiern gewidmet. Unter anderem erklärt der Kernphysiker, wie man eine Apparatur basteln kann, in der weiche Eier perfekt gelingen.
Neutron nach Neutron
Wie auch immer: Fast dreißig Jahre lang erzeugte der Reaktor still und leise ein Neutron nach dem anderen. Doch ein paar Jahre nach Tschernobyl kam es auch in Garching zu Störfällen: Mal tauchte Radioaktivität im Grundwasser auf, mal in der Isar, und sogar die Damentoilette eines benachbarten Teilchenbeschleunigers strahlte eines Tages. Uran statt Urin, ätzten die Atomgegner damals. Dabei war es doch nur ein bisschen radioaktives Kobalt.
Das alles wäre kein Grund gewesen, den Forschungsreaktor am 28. Juli 2000 stillzulegen. Doch seine Zeit war abgelaufen; die Physiker wollten eine größere Anlage. Das denkmalgeschützte Atom-Ei war da längst zur Ikone geronnen. Die Stadt Garching nahm es in ihr Wappen auf – und eine Bürgerinitiative gegen den Reaktor in ihr Logo. Schon dem Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner war die Symbolkraft bewusst. Das strahlende Ei vor Augen jubelte er: "Jeder Preuße, der über die Autobahn nach München kommt, kann sehen, dass bei uns etwas los ist."